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Horror-Nebenjob: Die Bücher-Zwangsräumung

Illustration: Daniela Rudolf-Lübke

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Horrorstufe: 6 von 10

Chef: Zwanghafter Büchersammler

Bezahlung: 20 Euro

Erlernte Skills: Extra-Portion Empathie

20 Euro sind 20 Euro, dachte ich. Im Studium machte schließlich jeder Cent extra ordentlich was aus. Also antwortete ich auf folgende Nebenjob-Anzeige in einem Berliner Stadtmagazin: „Schlepper gesucht: Montag, Soundsovielter Soundsovielter, 18 Uhr, Charlottenburg, zwei Stunden, 20 Euro. Telefonische Bewerbung unter so und so.“ Ich rief an und sprach kurz mit einem irgendwie traurig klingenden Mann, der mir sofort für den Job zusagte.

Nach Feierabend fuhr ich an dem Montag also nach Charlottenburg. Die Adresse: ein unscheinbarer Altbau, dritter Stock. Ich klingelte, stapfte hoch. Vor der Wohnungstür standen zwei Jungs in meinem Alter, auch Nebenjobler, und ein circa 40-jähriger Mann, der Anzeigenaufgeber, dessen Handschlag zur Begrüßung superschwach und dessen Stimme genau wie am Telefon war: betrübt. Und, ich traute mich gar nicht genau hinzuschauen, aber ich meinte, Tränen in seinen Augen zu sehen. Er steckte den Schlüssel ins Schloss, öffnete die Tür und sagte nur: „Die müssen raus. Also, nicht alle, aber einige.“

Erst nahmen ihm seine Bücher das Schlafzimmer, dann die Küche und zuletzt das Bad

Mit „die“ meinte er Bücher. Genauer: unfassbar viele Bücher. Die ganze Wohnung war voll damit. Alles! Jeder der drei Räume war bis unter die Decke vollgestopft mit Büchern – ja, auch Küche und Bad. Selbst der eigentlich großzügig geschnittene Flur bot kaum mehr Platz zum Gehen, auch da waren unzählige Bücherstapel. Die beiden Jungs und ich schauten erst uns, dann den Anzeigenaufgeber ungläubig an. Jetzt wurde es deutlich: Das waren Tränen in seinen Augen und die kullerten nun. So sehr kullerten die, dass sich der Mann, scheinbar beschämt, von uns wegdrehte. Ich weiß nicht mehr, wie lang genau, aber so ein, zwei Minuten standen wir einfach nur still da und warteten, dass er sich wieder uns zuwandte. Als er sich etwas beruhigt hatte, erzählte er uns mit zittriger Stimme seine Geschichte in Kurzform.

Im Studium habe er angefangen, Bücher zu sammeln. Ziemlich fix habe er eine beachtliche Anzahl besessen – und dann einfach nicht mehr mit dem Sammeln aufgehört. „Lieber zwei neue Bücher als schön Essen gehen“, sagte er, und das nun schon weniger zittrig, eher total überzeugt. Irgendwann seien die Regale voll gewesen, er habe dann überall Bretter an den Wänden angebracht, bis hoch zum Stuck. Hauptsache Platz für neue Bücher. Bald seien aber auch die Boards komplett mit Büchern belegt gewesen. Er musste also selbst auf Platz verzichten, um die Bücher unterzubringen: zuerst auf das Schlafzimmer, dann auf die Küche, letztlich auch auf das Bad. Schließlich begann er, bei Freunden oder seiner Mutter unterzukommen.

Ob er die Bücher alle gelesen habe, fragte einer der anderen Nebenjob-Jungs. „Oft nur die Klappentexte, aber wenn die gut waren, wollte ich die Bücher haben. Und auch nicht mehr hergeben.“ So weit, so zwanghaft. Ob er sich schon mal überlegt hat, eine Therapie zu machen, traute sich niemand von uns zu fragen. Wir fragten gar nichts mehr, das hätte die Trauer womöglich nur verstärkt.

Die vollen zwei Stunden stand er leise weinend neben der Wohnungstür

Vielleicht wäre das alles auch noch eine Weile so weiter gegangen mit den Büchern, im Flur war ja noch ein bisschen Platz. Aber der Supersammler hatte irgendwann Probleme mit seinem Vermieter bekommen: Die Wände bekamen Risse, auch bei den Nachbarn, und die schlugen Alarm. Deshalb die Räumung, und deshalb mein Nebenjob. Der bestand darin, Kartons mit Büchern zu befüllen und sie runter vors Haus zu tragen, wo sie ein Lkw abholen würde. Unser Arbeitgeber sagte, er könne das nicht selbst, er bringe das schlichtweg nicht übers Herz. Weder die Kartons packen, noch sie wegtragen. Das mussten also Helfer, wir, machen.

Klar, es war ein bisschen nervig, Dutzende und Dutzende Bücher erst mal in den Kartons zu verstauen. Ein bisschen wie bei einem Umzugstermin von Freunden, zu dem man erscheint, und es ist praktisch noch nichts gepackt. Auch das Runtertragen war schweißtreibend, gut hundert Kisten haben wir geschleppt. Aber das anstrengendste an dieser Arbeit war, den Arbeitgeber damit ungewollt todunglücklich zu machen. Die vollen zwei Stunden stand er leise weinend neben der Wohnungstür. Immer wieder, Kiste für Kiste, musste ich an ihm vorbei und konnte kaum hinschauen.

Ich kann mich nicht erinnern, wann ich seitdem mit einem fremden Menschen noch mal so viel Mitleid hatte. Als der Job geschafft war, bekam jeder Helfer 20 Euro, die wir am liebsten direkt zurückgegeben hätten, für neue Bücher und Regale irgendwo anders. Aber damit hätten wir dem Mann wohl nicht wirklich geholfen. Wir sahen noch zu, wie er dem fortfahrenden Bücher-Lkw hinterherwinkte. Und wünschten ihm alles Gute.

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