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Was bedeutet es wirklich, frei zu sein?

Mit „Freiheit“ argumentieren gerade viele, die gegen die Corona-Maßnahmen auf die Straße gehen. Aber definieren sie den Begriff dabei überhaupt richtig?
Foto: Tayfun Salci / imago images / ZUMA Wire

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Seit mehr als einem Jahr sind unsere Freiheiten massiv eingeschränkt: Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen zwingen uns, viel daheim zu bleiben. Markus Tiedemann ist Professor für Philosophiedidaktik und Ethik an der TU Dresden, lehrte in Mainz und an der Freien Universität Berlin. Freiheit, sagt er, sei mehr als auf Reisen gehen und Partys zu feiern zu können. Was genau bedeutet Freiheit? Und was ist während der Pandemie aus ihr geworden?

jetzt: Herr Tiedemann, nach Artikel Zwei unseres Grundgesetzes ist jede*r frei beziehungsweise hat das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Geht das überhaupt? 

Markus Tiedemann: Selbst, wenn man Freiheit als ultimativ, als höchstes Gut ansieht, folgt daraus nie eine unbeschränkte Handlungsfreiheit. Es gilt die alte Weisheit, dass die Freiheit des einen immer vor der Nase des anderen endet. Jede Freiheit, die ich mir nehme, darf ich mir nur dann nehmen, wenn ich sie mit guten Gründen vor dem anderen rechtfertigen kann. Das funktioniert zum Beispiel nicht, wenn ich jemand anderen verletze. Meine Handlungsfreiheit ist also immer notwendig beschränkt. 

Aktuell ist sie durch die Corona-Pandemie besonders beschränkt, oder?

Wenn man sich auf Handlungs- oder Gestaltungsfreiheit bezieht, beschränkt die Pandemie unsere Freiheit natürlich sehr. In einem philosophischen Verständnis ist Freiheit jedoch nichts anderes als die Möglichkeit, autonom über das eigene Leben zu entscheiden. Was zählt ist also, dass wir als vernunftbegabte Wesen Herr und Herrin über unsere eigene moralische Gesetzgebung sind und wir uns dieser selbstgewählten Freiheit unterwerfen. Das ist die Essenz der Freiheit. Unter diesem Gesichtspunkt hat die Pandemie also kaum Auswirkungen auf unsere Freiheit. Zum Beispiel kann es ein Ausdruck von Freiheit sein, wenn wir die Corona-Maßnahmen zwar bedauern, sie aber befolgen, weil wir den Prozess ihrer Rechtfertigung anerkennen.

„Die Einschränkungen aufgrund der Pandemie können rational gerechtfertigt werden“

Aber kann man sich angesichts der vielen Beschränkungen und Regeln überhaupt noch frei fühlen? 

Es geht gar nicht darum, wie wir uns fühlen. Als Gesellschaft landen wir sonst schnell im Populismus. Das ist nämlich immer dann der Fall, wenn Menschen denken, ihre persönliche Gefühlslage sei Maßstab für richtig und falsch. Dabei geht es eigentlich darum, was ich aus rationalen Gründen moralisch rechtfertigen kann: Die Einschränkungen aufgrund der Pandemie können rational gerechtfertigt werden und man kann sie auch rational kritisieren. 

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Die Entscheidung, Fürsorge vor persönliche Handlungsfreiheit zu stellen, könne auch ein Ausdruck von Freiheit sein, sagt Markus Tiedemann.

Foto: Jan Meier

Aber der Einzelne ist nicht frei, sie zu ändern.

Richtig, aber das gilt für jede Gesellschaft. Gemeinschaften funktionieren nicht, wenn jedes Mitglied das Recht einfordert, kollektive Beschlüsse individuell ändern zu können. Entscheidend ist die Art, in der die kollektiven Beschlüsse zustande kommen. In unserem Fall handelt es sich dabei um eine Demokratie mit staatlicher Gewaltenteilung.

Es ist also auch in Ordnung, seine eigene Freiheit einschränken zu müssen, um andere zu schützen? 

Sie haben die klare moralische Pflicht, niemandem aktiv Schaden zuzufügen. Sobald ich zu meinen Gunsten und auf Kosten eines anderen handle, widerspricht dies unseren moralischen Intuitionen und zahlreichen moralischen Theorien. In der aktuellen Pandemie stellt sich allerdings die Frage, ob ich auch verpflichtet bin, andere aktiv zu schützen. Es wäre zum Beispiel möglich, zu fordern: „Nur die Angehörigen der Risikogruppen sollen zu Hause bleiben und sich einschränken, um ihre Gesundheit zu schützen.“ Die schwedische Gesellschaft hat sich mit guten Gründen für diesen Weg entschieden. Allerdings existieren auch gute Gegenargumente: „Es ist nicht fair, nur die alte Generation einzuschränken, immerhin ist sie der Grund, dass die Jüngeren überhaupt da sind. Die Alten haben damals auch nicht aufgehört, für die Schulen zu zahlen, nur weil sie schon damit fertig waren.“ Oder: „Auch junge Menschen sterben.“ Unsere Gesellschaft hat sich eher für den zweiten Weg entschieden. Entscheidend ist, dass sowohl in Schweden als auch in Deutschland nach bestem Wissen und Gewissen entschieden wurde. 

„Sobald Menschen in einen fairen Aushandlunsgsprozess gehen, müssen sie sich gleiche Rechte zugestehen“

Wer die Maßnahmen nicht für richtig hält, wird allerdings darauf verweisen, dass die staatliche Verantwortung darin besteht, die individuelle Freiheit zu schützen, statt seine Bürger*innen durch Fürsorge einzuschränken. Ist Freiheit wichtiger als Fürsorge?

In einer ultimativen Wahlsituation ist Freiheit auf jeden Fall wichtiger. Aber wir sind gerade in keiner solchen Situation. Als Gesellschaft haben wir uns dazu entschieden, so zu handeln, dass die Fürsorge Vorrang hat, auch, wenn man dafür die Handlungsfreiheit einschränken muss. Diese Entscheidung kann jedoch durchaus ein Ausdruck von Entscheidungsfreiheit sein! Freiheit bedeutet nicht, all das machen zu können, was ich möchte, sondern alles wollen zu können, was ich muss. Sie wird also nicht auf dem Altar der Fürsorge geopfert.

In der Pandemie ist es erlaubt, in die Kirche zu gehen, aber nicht, sich mit Freund*innen zu treffen. Wiegt eine Freiheit mehr als die andere? 

Nein. Sobald Menschen in einen fairen Aushandlunsgsprozess gehen, müssen sie sich gleiche Rechte zugestehen. Dabei muss man sich auch auf gewisse Prozesse einigen und Prozessgerechtigkeit schaffen. Diese ist aber unabhängig von den Ergebnissen, die dabei herauskommen. 

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Ich streite mich mit meinem Nachbarn über die Position des Gartenzauns und weil wir uns nicht einigen können, ziehen wir vor Gericht. Dort bekommt mein Nachbar Recht. Es geht jetzt nicht darum, ob ich das Urteil gerecht finde oder nicht – wenn ich den Prozess der Urteilsfindung an sich begrüße, habe ich mich zu fügen. Ich selbst finde es auch absurd, dass Kirchen geöffnet werden und Restaurants nicht. Weil ich jedoch hinter dem Prinzip eines demokratischen Aushandlungsprozesses stehe und die Argumente anerkenne, nehme ich das Ergebnis hin. 

Wäre es moralisch richtig, wenn Geimpfte mehr Freiheiten hätten als ihre nicht-geimpften Mitbürger*innen? 

Meines Erachtens ist das kein Problem, denn es liegt keine Diskriminierung vor. Das Leben der Personen, die noch nicht geimpft sind oder sich nie impfen lassen wollen, verschlechtert sich nicht dadurch, dass die andern eine Verbesserung haben. Diskriminierend wäre es dann, wenn Personen aufgrund unabänderlicher Merkmale wie etwa Geschlecht, Hautfarbe oder Alter keine Impfungen bekommen würden. Oder wenn diejenigen, die sich nicht impfen lassen wollen, von Institutionen der Gerechtigkeit ausgeschlossen würden. Wenn sie also zum Beispiel nicht mehr zum Anwalt gehen dürften, nicht mehr vor Gericht ziehen oder bei der Polizei erscheinen dürften. Wenn alles dafür getan wird, dass auch Sie bald geimpft werden, wird Ihre Situation nicht schlimmer, nur, weil Ihr geimpfter Nachbar wieder ins Theater gehen kann und Sie noch nicht. Neid ist keine staatsbürgerliche Tugend und begründet auch keinen Rechtsanspruch. 

„Politische Systeme, die sich dem Prinzip der Freiheit verpflichtet fühlen, sind kompliziert, träge und anstrengend“

Was ändert das Erleben der Pandemie an unserer Definition von Freiheit?

Ich vermute, dass die Pandemie die meisten Menschen in ihrer falschen Annahme bestätigt, dass Handlungsfreiheit die Essenz der Freiheit ist – also zum Beispiel, Party machen zu können.  Es fehlt an einer Wertschätzung der Freiheit als autonome Selbstbestimmung, die sich in der Teilnahme an demokratischen Entscheidungsprozessen niederschlägt. Die Pandemie wird also eine Abwärtsspirale bestärken, die wir ohnehin schon beobachten. 

Was bedeutet das konkret?

Politische Systeme, die sich dem Prinzip der Freiheit verpflichtet fühlen, so wie unsere Demokratie, sind kompliziert, träge und vor allem anstrengend. Und wir erleben gerade den Niedergang dieser Gesellschaftsform, der in meinen Augen nicht mehr aufzuhalten ist: Die Zahl der Menschen, die bereit sind, sich dieser Anstrengung zu stellen, sinkt. Das sieht man daran, dass der Populismus zunimmt. Populisten schlachten die Coronakrise aus und mobilisieren Gefühle. Wer versucht, rational dagegen zu argumentieren, hat es schwer.

Heißt das, als Gesellschaft begeben wir uns in die Unfreiheit, weil wir schlicht zu faul sind, um für unsere Freiheit einzustehen? 

Zu faul und zu feige, ja.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Text ist in Zusammenarbeit mit der Katholischen Journalistenschule ifp entstanden. Die Autorin des Textes ist dort Stipendiatin und hat diesen Beitrag innerhalb eines gemeinsamen Projektes mit jetzt recherchiert und verfasst. Die im Rahmen des Projektes entstandenen Beiträge findest du auf der Themenseite „jetzt: Freiheit“.

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