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Wir denken mit der Hand

Illustration: Daniela Rudolf

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Mein Freund saß mit gekrümmtem Rücken im Bett, den Laptop auf dem Schoß, Verzweiflung in den Augen. Tagelang hatte er den Inhalt Hunderter Powerpoint-Folien in einem Word-Dokument zusammengestöpselt, nun versuchte er, sich die neue Fassung in den Kopf zu hämmern. Ich hatte schon im Vornherein prophezeit, dass es so nicht klappen würde, hatte ihn beschworen: „Schreib es ab! Per Hand.“


Aber erst in diesem Moment, nur Stunden vor der Klausur, als sowieso schon alles verloren schien, stimmte er zu: „Okay, ich versuch’s.“ Ich legte ihm Block und Stift hin und er schrieb ab, was er noch abzuschreiben schaffte. Am Ende bekam er in der Prüfung fast ausschließlich Punkte auf Fragen, deren Antworten er zuvor per Hand geschrieben hatte. 

An Zufall glaube ich dabei nicht. Denn ich sehe es ja an mir selbst: Zu Schul- und Unizeiten schrieb ich grundsätzlich sämtliche Zusammenfassungen per Hand. Später reichte es, sie noch ein- oder zweimal intensiv zu lesen. Dann war alles da in meinem Kopf. Kopierte Abschriften von Kommiliton*innen brachten mir dagegen ähnlich wenig, wie sich die Präsentation im Gesamten direkt vom Bildschirm reinzuziehen: Verzichtete ich einmal auf meine eigene Zusammenfassung, schrieb ich die Prüfung meistens noch ein zweites Mal.

Beim Handschreiben werden Hirnregionen aktiviert, die für das Denken, die Sprache und das Gedächtnis zuständig sind


Dass mir das Lernen beim Schreiben so viel leichter fällt und fast schon automatisch geschieht, lässt sich wissenschaftlich erklären. Denn beim feinmotorischen Schreiben mit der Hand wird aktiviert, was beim Tippen weiterhin lahm liegt: Hirnregionen, die für das Denken, die Sprache, aber auch für die Gedächtnisleistung zuständig sind.

Studierende, die sich Notizen mit der Hand machen, können sich Inhalte so nachweislich deutlich besser merken, als wenn sie mit dem Laptop arbeiten. Beim Tippen ist vom Bewegungsablauf her schließlich jeder Buchstabe gleich, beim Schreiben wird jeder einzeln und anders aufs Papier gesetzt. 



Daneben konnte Virginia Berninger, Professorin für Pädagogische Psychologie an der University of Washington, in einer ihrer Studien übrigens auch beweisen, dass Kinder mit einem Stift mehr Text in kürzerer Zeit aufschreiben als mit einer Tastatur. Außerdem waren mit dem Stift aufgeschriebene Geschichten kreativer verfasst, als die der Vergleichsgruppe ohne. Das lässt sich auch auf Erwachsene übertragen. Wer sich die Mühe macht, wichtige Dinge mit der Hand zu schreiben, spart sich am Ende sehr viel Zeit – und liefert bessere Ergebnisse. 



Außerdem erfordert die Aufgabe, einen Text per Hand zu schreiben, dass man sich schon vorher über dessen Inhalt Gedanken gemacht hat. Was handschriftlich geschrieben wurde, lässt sich schließlich nicht einfach wieder verschieben oder löschen. Das aufbereitete Thema muss gedanklich wirklich durchdrungen werden.


Wir beschränken uns beim Schreiben mit der Hand auf das Wesentliche

 

Dass mit der Hand zu schreiben, im Grunde also schlau und effizient macht, ist nicht nur in der Prüfungsphase gut zu wissen, sondern kann auch im Leben danach sehr nützlich sein. Ein Beispiel dafür: Arbeitsorganisation. Wer sich Termine im Kalender notiert, „begreift“ sie beim Greifen und Führen des Stiftes und visualisiert sie so später besser. Mit der eigenen Schrift im Kopf, erinnert sich der Mensch leichter daran, dass da etwas um eine gewisse Zahlenkombination herum passiert, das für ihn selbst wichtig ist. Er braucht den Blick in den Terminkalender meistens gar nicht mehr. 


Auch To-Do-Listen sollte man am besten per Hand schreiben. Denn wieder denkt der Kopf dabei besonders gut mit. Prioritäten ordnet man so schon während des Schreibens, auch weil man sich entscheiden muss: Was ganz oben steht, steht oben. Wenn das Blatt voll ist, ist es voll – so wie Tage auch nur eine begrenzte Zahl an Stunden haben. Wir beschränken uns beim Schreiben per Hand also auf das Wesentliche.

Am PC, Handy oder Tablet kann stattdessen ständig umgedacht werden. Das ist ein Problem, denn es kostet Zeit und ist quasi die Gelegenheit für Prokrastinierer, nach dem Motto: „Bevor ich weitermache, gucke ich lieber nochmal nach, ob bei dem Vorher alles passt.“ Dagegen kann es bei der handgeschriebenen Liste schon Motivation genug sein, Dinge einfach zu erledigen, bevor man ständig wieder eine neue Liste aufsetzen muss.



Das Schreiben mit der Hand kann helfen, Krisen zu bewältigen oder ihnen vorzubeugen

Das Beste am Mit-der-Hand-Schreiben liegt für mich aber im Privaten, im Intimen. Handgeschriebenes stützt meine Identität und wertet die Kommunikation mit anderen auf.
 Denn die Handschrift ist persönlich.  

Meine hat sich über die Jahre stark verändert und musste in der Pubertät sogar einiges durchmachen (Ki$$, SüzZe, gefettete Buchstaben, ihr wisst schon...). Trotzdem ist sie in ihrer Art immer ähnlich geblieben. Es ist, als hätte sie ihre eigene Aura. Sie spiegelt die Persönlichkeit und ist gleichzeitig ein Teil von ihr. Kein Mensch, nicht einmal meine eineiige Zwillingsschwester, schreibt wie ich.

Das Schreiben mit der Hand kann außerdem auch helfen, Krisen zu bewältigen oder, noch besser, ihnen vorbeugen. Ich schreibe deshalb fast alle Gedanken, die mir wichtig sind, auf. 

Wenn ich unterwegs bin und mich etwas berührt oder mich zum Lächeln bringt, schreibe ich es in mein Notizbuch – als kleinen Stimmungsaufheller für Zwischendurch. In mein Tagebuch kommt dann, was mich aufwühlt. Oder ich schreibe einen Brief an den Menschen, der mich aufgewühlt hat.

Das Aufschreiben eines Gefühls, eines Gedankens, einer Erfahrung, gibt Bedeutung. Es wird festgehalten, an was man sich erinnern will, muss oder sollte. Es ist eine Momentaufnahme, die fast schon zeremoniell entsteht. Etwas mit der Hand zu schreiben, zeigt: Das liegt mir am Herzen, ich habe genau darüber nachgedacht, was ich dir hier schreibe.

Handgeschriebenes ist eine Liebeserklärung an andere Menschen, an uns selbst und ein Geschenk an den eigenen Kopf. Es hat die Macht, Leben zu verbessern. Wir sollten es nutzen.

Anmerkung der Redaktion: Dieser Text wurde zuerst am 17. August 2017 veröffentlicht und am 3. Juli 2020 noch einmal aktualisiert.

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