Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

„Ich ertrage diese Scheinheiligkeit nicht mehr“

Plötzlich auch in seiner Musik politisch: Henning May.
Foto: Daniel Karmann / dpa

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Vergangene Woche hat AnnenMayKantereit ein neues Album veröffentlicht: „12“ heißt es und ist im Gegensatz zu den früheren Wohlfühlplatten der Band überraschend politisch. Im Gespräch mit jetzt spricht Leadsänger Henning May über politische Verantwortung, darüber, warum Reichweite dabei keine Rolle spielt und darüber, wieso er seine eigene Scheinheiligkeit nicht mehr erträgt.

jetzt: Euer neues Album heißt 12. Es sei nämlich nicht fünf vor 12, sondern 12, sagt ihr. Entwickelt sich Annenmaykantereit jetzt von einer Wohlfühlband zu einer Protestband?

Henning May: Ich glaube nicht, dass wir eine Protestband sind. Ich glaube eher, dass man mit 22 ein anderes Album macht, als mit 28. Mit mehr Lebenserfahrung rückt der Fokus von einem selbst ein Stück weit weg. Es ist ein Prozess, der in Schüben passiert und bei mir ganz stark durch das Attentat in Hanau ausgelöst wurde. Ich habe begonnen, mir Wissen anzueignen, mich mehr über Rechtsextremismus und strukturellen Rassismus zu informieren, über die Versäumnisse unseres Verfassungsschutzes rund um den NSU-Prozess. Je mehr ich darüber gelernt habe, desto mehr ist mir meine eigene Unwissenheit erst klar geworden.

Lange wurde euch als Band vorgeworfen, zu unpolitisch zu sein. Auf diesen Vorwurf hast du 2016 in einem Interview gesagt: „Ich finde das seltsam, weil ich mein politisches Engagement und meine karitativen Aktivitäten gern als Privatperson ausleben will.“ Heute machst du genau das Gegenteil. Warum?

Weil ich es nicht mehr ertrage, dass wir an einem Tag emotionalisiert über ein Thema sprechen, das uns wichtig ist, und am nächsten Tag sind wir plötzlich gar nicht mehr emotionalisiert. Wenn mir jemand abends in der Kneipe sagt: „Wir müssen was tun! Unsere Gesellschaft ist ungerecht! Wir brauchen einen Mindestlohn und Europa darf nicht zerfallen!“, dann würde ich am liebsten sagen: „Ja, was machst du denn? Was konkret machst du in deinem Alltag, außer mir das jetzt zu sagen?“ Ich ertrage diese Scheinheiligkeit nicht mehr, auch an mir selbst nicht.

„Wer radikale unmenschliche Positionen vertritt, der engagiert sich viel eher politisch“

Bewirkt man wirklich so viel mehr, wenn man seine Anteilnahme nicht abends in der Kneipe, sondern auf Social Media ausdrückt?

Posts auf Social Media alleine sind kein politisches Engagement, natürlich nicht. Mich interessiert auch immer: Ist die Person, die da postet, irgendwo Mitglied? Um politisch involviert zu sein, muss man versuchen, so viel Einfluss auf die Politik zu nehmen, wie möglich. Man muss sich für eine Partei entscheiden und probieren auf sie einzuwirken, sie zu verändern, Teil eines Ganzen zu sein. Man kann nicht sagen: Ich bin links, aber ich find‘ die Grünen blöd, die SPD blöd, die Linke blöd, das ist alles nichts für mich, alle Politiker sind Lügner. Ein Beispiel: Wenn wir eine Verfassungsschutzreform wollen, die dazu beiträgt, dass Gerichtsprozesse wie der NSU-Prozess in Zukunft besser ablaufen, dann bleibt uns nichts Anderes übrig, als in die richtigen Parteien einzutreten und uns dort einzubringen. Die Entscheidungen werden nämlich dort getroffen – in der Politik. Und komischerweise haben Menschen, die radikal unmenschliche Positionen vertreten, viel mehr Bock auf eine Partei.

Wie meinst du das genau? Was ich meine ist: Wer radikale unmenschliche Positionen vertritt, der engagiert meiner Ansicht nach viel eher politisch. Und wer menschliche Positionen vertritt, hat vielleicht Bock zu Wahlen zu gehen, einen coolen Post zu machen, zur Black Lives Matter-Demo zu gehen, aber das war’s! Und diesen Fehler, den sehe ich auch bei mir selber.

Wo siehst du da einen Ausweg?

Ich suche nach Möglichkeiten, etwas politisch zu bewirken. Ich bin Parteimitglied bei den Grünen, als Band haben wir mit einem Konzert ein Boot von SOS Mediterranee finanziert, eine Organisation, die Geflüchtete vor dem Ertrinken rettet. Reporter ohne Grenzen unterstütze ich und darüber habe ich im Übrigen noch nie was gepostet, genauso wenig wie über meine Mitgliedschaft bei Green Peace. Und ich versuche die Menschen in meinem engsten Kreis dazu zu bringen, politisch Stellung zu beziehen. Nach dem Anschlag in Hanau habe ich zum Beispiel Freunde von mir angeschrieben und sie gefragt, warum sie eigentlich nichts dazu posten.  

Und was haben sie gesagt?

„Ja, wir haben nicht die gleiche Reichweite wie du!“ Dann habe ich gesagt: das ist doch absoluter Schwachsinn!

Aber das stimmt doch, du hast mehr Reichweite.

Natürlich habe ich das, aber es ist eine andere Form von Reichweite. Die Leute, die mich abonniert haben, denken sich: „Das ist der komische Pocahontas-Boy, der jetzt irgendwas über die rechten Attentate sagt. Der muss jetzt aber auch echt zu allem was sagen“. Wenn aber du jetzt was postest und du bist Miriam und die Freundin von Annette und Annette kennt dich megagut und Annette fühlt dich und ändert deshalb was, dann ist dein Post mehr an Annette dran als meiner. In diesem Moment ist deine Reichweite viel wirkungsvoller und näher als meine das je sein könnte.

„Ich habe mittlerweile das Selbstbewusstsein, sehr konkret Bezug auf ein politisches Thema zu nehmen“

Wächst politische Verantwortung nicht mit der Reichweite?

Nein. Ich würde eher sagen, dass mehr Reichweite mehr Möglichkeiten und Gefahren birgt. Mit meiner Reichweite habe ich zwar mehr Möglichkeiten, politische Effekte zu entfalten, aber gleichzeitig besteht auch die Gefahr, dass eine unüberlegte Aussage sehr viele Menschen verletzt, auch, wenn sie vielleicht anders gemeint war. Natürlich bringt auch das eine gewisse Verantwortung mit sich, aber die politische Verantwortung sehe ich eher bei Menschen, die in ein Mandat gewählt werden, nicht bei Musikern. Die riskieren eher was, wenn sie sich politisch positionieren.

Zum Beispiel?

Als Band denkt man sich: Vielleicht sollte ich mich jetzt damit zurückhalten, dass ich finde, unsere Bundesregierung macht schlechte Arbeit, weil dann 50 Prozent des Publikums, das ich anspreche, direkt davon abgeschreckt ist und eigentlich wollen wir ja noch auf Festivals spielen. Aber ich glaube, es hat auch viel mit der Angst vor dem fehlenden Echo zu tun. Die Angst, dass es niemanden interessieren könnte. Dass ich einen Post über Hanau schreibe, in dem ich sage, dass mich der Anschlag schockiert und ich dann fünf Kommentare dafür bekomme. Und am nächsten Tag poste ich ein Cover von Miley Cyrus und es gibt tausend Kommentare.

Und jetzt postest du nicht nur was über den Anschlag in Hanau, sondern singst auch noch darüber. Ist das nicht viel riskanter?

Doch, aber ich habe mittlerweile das Selbstbewusstsein, sehr konkret Bezug auf ein politisches Thema zu nehmen, ohne dabei Angst zu haben, mir meine Perspektive als Musiker zu verbauen. Es gibt viele Leute, die Musik hören, um abzuschalten und deswegen keinen Bock haben werden, unser Album zu hören. Aber unser Album heißt 12, es richtet sich nicht an die Leute, die Bock haben zu chillen.

  • teilen
  • schließen