Polnische Polizisten bewachen die Grenze zu Belarus.

Und Tausende Flüchtlinge hoffen auf ein neues Leben in Europa.

Unter ihnen ist Familie Abu. Sie friert seit Tagen. Aber sie weiß:

„Wir wollen auf keinen Fall zurück“

Polnische Polizisten bewachen die Grenze zu Belarus.

Und Tausende Flüchtlinge hoffen auf ein neues Leben in Europa.

Unter ihnen ist Familie Abu. Sie friert seit Tagen. Aber sie weiß:

„Wir wollen auf keinen Fall zurück“

Von Alexander Gutsfeld
7. November 2021 - 7 Min. Lesezeit

Unverhofft und heimlich konnte Familie Abu in Belarus durch ein Loch im Grenzzaun nach Polen schlüpfen und loslaufen. Fünf Tage später sitzt die Großfamilie aus der Autonomen Region Kurdistan im Irak in einer Lichtung, eingewickelt in Rettungsdecken. Die Sonne geht gerade unter, die Temperaturen liegen knapp über dem Gefrierpunkt. Auf dem mit Laub bedeckten Boden kauern drei Generationen: Großeltern, Eltern, sieben Kinder. Dann erscheint ein Trupp uniformierter Männer und Frauen.

Es sind polnische Grenzbeamte, sie sind gekommen, um die Familie von hier wegzubringen. Nach Angaben des Vaters Anwar Abu ist die Familie nach dem Grenzübertritt fünf Tage lang durch den 1500 Quadratkilometer großen Wald marschiert.

Der Bialowieza-Nationalpark gilt als einziger echter Urwald Europas, ist UNESCO-Weltnaturerbe und letzter Rückzugsort des europäischen Bisons.

Für Familie Abu wurde er zum undurchdringbaren Hindernis. Fünf Tage voller Hunger und Durst, fünf Tage fast ohne Schlaf. Und immer diese verdammte Kälte. Nachts hat es im Wald inzwischen Minusgrade.

Es ist schwer zu sagen, wie viele Migrantinnen und Migranten sich derzeit im Grenzgebiet zwischen Polen und Belarus aufhalten. Nach Angaben der polnischen Regierung sind es zwischen 3000 und 4000. Sie wollen in die EU, viele von ihnen nach Deutschland.

Es sind polnische Grenzbeamte, sie sind gekommen, um die Familie von hier wegzubringen. Nach Angaben des Vaters Anwar Abu ist die Familie nach dem Grenzübertritt fünf Tage lang durch den 1500 Quadratkilometer großen Wald marschiert.

Der Bialowieza-Nationalpark gilt als einziger echter Urwald Europas, ist UNESCO-Weltnaturerbe und letzter Rückzugsort des europäischen Bisons.

Für Familie Abu wurde er zum undurchdringbaren Hindernis. Fünf Tage voller Hunger und Durst, fünf Tage fast ohne Schlaf. Und immer diese verdammte Kälte. Nachts hat es im Wald inzwischen Minusgrade.

Es ist schwer zu sagen, wie viele Migrantinnen und Migranten sich derzeit im Grenzgebiet zwischen Polen und Belarus aufhalten. Nach Angaben der polnischen Regierung sind es zwischen 3000 und 4000. Sie wollen in die EU, viele von ihnen nach Deutschland.

Und sie wurden zum Spielball eines Konflikts zwischen dem belarussischen Diktator Alexander Lukaschenko und Polens Regierung um Regierungschef Mateusz Morawiecki. Lukaschenko soll Menschen aus Staaten wie Syrien, Afghanistan, Libyen und Irak gezielt nach Belarus einfliegen lassen, um sie in Richtung EU-Grenze zu schleusen.

Sein Ziel: Auf diesem Weg Druck auf die EU auszuüben, Belarus von den europäischen Sanktionen zu befreien. Lukaschenko allerdings hatte die Anschuldigungen zurückgewiesen.

Am Freitag gab die türkische Luftfahrtbehörde bekannt, ihr Land habe Menschen aus Syrien, dem Irak und Jemen Flüge von türkischen Flughäfen nach Belarus ab sofort verboten.

Als Reaktion auf das Vorgehen Lukaschenkos hat Polen nach Angaben des polnischen Verteidigungsministeriums 15 000 Soldaten an die Grenze geschickt. Sie sollen die Flüchtenden daran hindern, die Grenze zu übertreten.

Vielen von ihnen gelingt es trotzdem, nach Polen zu kommen. In der Nacht zum vergangenen Mittwoch haben es Migrantinnen und Migranten geschafft, die Zäune in der Nähe der polnischen Dörfer Krynki und Bialowieza einzureißen und die Grenze zu überqueren. Allerdings greifen die polnischen Grenzbeamten einen Großteil der Menschen, die in Polen ankommen, wieder auf. Oft fahren sie sie zurück nach Belarus, obwohl das gegen die Charta der Grundrechte der Europäischen Union verstößt. Diese erlaubt es Geflüchteten wie auch der Familie Abu, am Ort der Ankunft einen Asylantrag zu stellen.

Ein paar Stunden bevor die Sicherheitsbehörden die Familie aufgreifen, an einem Ort an der Grenze zu Belarus: Deutsche und polnische Aktivistinnen und Aktivisten treffen sich zu einer geheimen Übergabe. Die deutschen Aktivisten des NGO-Bündnisses Seebrücke tragen vierzehn Pakete aus einem Bus in einen grauen Kia.

Dreizehn Stunden waren sie von Berlin aus unterwegs, um ins polnische Grenzgebiet zu kommen. Eine Szene wie aus einem Spionagefilm – nur, dass in den Paketen keine Waffen oder geheimen Dokumente sind, sondern Winterschuhe, Kopflampen und Powerbanks.

Vielen von ihnen gelingt es trotzdem, nach Polen zu kommen. In der Nacht zum vergangenen Mittwoch haben es Migrantinnen und Migranten geschafft, die Zäune in der Nähe der polnischen Dörfer Krynki und Bialowieza einzureißen und die Grenze zu überqueren. Allerdings greifen die polnischen Grenzbeamten einen Großteil der Menschen, die in Polen ankommen, wieder auf. Oft fahren sie sie zurück nach Belarus, obwohl das gegen die Charta der Grundrechte der Europäischen Union verstößt. Diese erlaubt es Geflüchteten wie auch der Familie Abu, am Ort der Ankunft einen Asylantrag zu stellen.

Ein paar Stunden bevor die Sicherheitsbehörden die Familie aufgreifen, an einem Ort an der Grenze zu Belarus: Deutsche und polnische Aktivistinnen und Aktivisten treffen sich zu einer geheimen Übergabe. Die deutschen Aktivisten des NGO-Bündnisses Seebrücke tragen vierzehn Pakete aus einem Bus in einen grauen Kia.

Dreizehn Stunden waren sie von Berlin aus unterwegs, um ins polnische Grenzgebiet zu kommen. Eine Szene wie aus einem Spionagefilm – nur, dass in den Paketen keine Waffen oder geheimen Dokumente sind, sondern Winterschuhe, Kopflampen und Powerbanks.

Als der graue Kia voll beladen ist, fährt er damit zu einem Ort, dessen Adresse hier nicht genannt werden soll. Die polnischen Aktivisten wollen nicht, dass der Standort ihrer Unterkunft öffentlich wird. Sie fürchten Angriffe von Rechten und Anfeindungen von Seiten der polnischen Regierung. Seit 2017 kontrolliert die Pis-Regierung, welche zivilgesellschaftlichen Gruppen Gelder erhalten.

Der Ort, an dem die Hilfsgüter gebracht werden, ist ein weißes Haus in der polnischen Provinz. In der Unterkunft hat das Netzwerk Grupa Granita seinen Sitz, das den Flüchtenden in den Wäldern hilft.

Am Eingang des Hauses steht die polnische Menschenrechtsaktivistin Anna Abroth. Sie ist 37 und wohnt eigentlich in Berlin. Als sich die Situation an der Grenze zwischen Polen und Belarus Anfang August zuspitzte, kam sie ins Grenzgebiet, um den Menschen zu helfen. Sie ist bis heute geblieben.

Am Eingang des Hauses steht die polnische Menschenrechtsaktivistin Anna Abroth. Sie ist 37 und wohnt eigentlich in Berlin. Als sich die Situation an der Grenze zwischen Polen und Belarus Anfang August zuspitzte, kam sie ins Grenzgebiet, um den Menschen zu helfen. Sie ist bis heute geblieben.

„Hier geht es um Leben und Tod“, sagt Anna. „Und trotzdem werden wir von der polnischen Regierung daran gehindert zu helfen.“ Das polnische Parlament hat am 2. September den Ausnahmezustand an einem 418 Kilometer langen und drei Kilometer breiten Grenzstreifen verhängt.

Seitdem ist Journalistinnen und Hilfsorganisationen der Zutritt in das Grenzgebiet verboten. Laut Anna ist die Errichtung der roten Zone ein Eingriff in die Pressefreiheit und unterlassene Hilfeleistung der polnischen Regierung. Während des Gesprächs hat die 37-Jährige ihre Umgebung genau im Blick. Ein älterer Mann beobachtet die Gruppe, die vor dem weißen Haus steht. Nach fünf Minuten bittet Anna alle Anwesenden, das Gespräch an einem anderen Ort fortzusetzen.

Dieser Ort ist ein Gasthaus in der Stadt Michalowo, 30 Kilometer von der Grenze zu Belarus entfernt. Hier bestellt Anna eine Suppe und kann ungestört reden. Trotzdem wirkt sie nervös, schaut immer wieder auf ihr Handy. Viele der Flüchtenden haben die Telefonnummern von Mitarbeitenden der Grupa Granita. Eigentlich für den Notfall, doch der ist fast schon zum Normalfall geworden. Wird sie angerufen, lässt Anna alles stehen und liegen und fährt in den Wald. Vorausgesetzt die Menschen befinden sich außerhalb der roten Zone. Anna sagt: „Ich habe meiner Familie versprochen, nicht ins Gefängnis zu kommen.“

Das Smartphone bleibt erstmal still. Also redet Anna weiter. Sie sagt, dass sie nachts Angst habe, im Wald auf einen toten Menschen zu steigen. Einmal habe ein Bewohner der roten Zone bei ihr angerufen. Er habe dort eine Leiche gefunden. Mindestens sieben Menschen sind nach Angaben der polnischen Polizei bisher im Grenzgebiet gestorben.

Anna glaubt, dass das Sterben in den Wäldern gerade erst beginnt. Denn die humanitäre Lage im Grenzgebiet ist katastrophal: Trinkwasser und Nahrung sind knapp, es wird immer kälter. Und der Winter kommt erst noch. „Für mich ist die polnische Regierung mitschuldig, dass in den Wäldern Menschen sterben“, sagt Anna. Sie hat in Flüchtlingscamps in Bosnien und im griechischen Lager Moria gearbeitet. Dort seien die Zustände besser gewesen als an der Grenze zu Belarus.

Anna glaubt, dass das Sterben in den Wäldern gerade erst beginnt. Denn die humanitäre Lage im Grenzgebiet ist katastrophal: Trinkwasser und Nahrung sind knapp, es wird immer kälter. Und der Winter kommt erst noch. „Für mich ist die polnische Regierung mitschuldig, dass in den Wäldern Menschen sterben“, sagt Anna. Sie hat in Flüchtlingscamps in Bosnien und im griechischen Lager Moria gearbeitet. Dort seien die Zustände besser gewesen als an der Grenze zu Belarus.

Und dann vibriert Annas Smartphone doch. Eine kurdische Familie braucht ihre Hilfe. Es ist Familie Abu. Anna atmet tief durch. „Sechzehn Menschen. So eine große Gruppe hatten wir noch nie.“ Die Familie befindet sich außerhalb der roten Zone. Jetzt muss alles ganz schnell gehen. Anna zieht ihre gelbe Mütze an, wickelt den roten Schal um den Hals und läuft zum Auto. Anna hat eine Mission.

Zu dem Ort im Wald kommt auch eine Gruppe von Journalistinnen und Journalisten. Öffentlichkeit, sagt Anna, sei die einzige Chance für die Familie, nicht sofort wieder abgeschoben zu werden.

Im Wald wird die Familie von einer Gruppe Menschen umringt. Menschenrechtsaktivisten der Grupa Granita haben warme Decken mitgebracht, außerdem Essen und Trinken. Auch ein Übersetzer und zwei Notärzte sind gekommen. Sie alle gehören zum Netzwerk der Gruppe.

Während die Journalisten Fragen stellen und die Fotografinnen Bilder schießen, nimmt Anna ein einjähriges Kind in den Arm und verteilt Schokolade.

Währenddessen kümmern sich die Notärzte um die alte Frau, die nicht mehr gehen kann.

Im Wald wird die Familie von einer Gruppe Menschen umringt. Menschenrechtsaktivisten der Grupa Granita haben warme Decken mitgebracht, außerdem Essen und Trinken. Auch ein Übersetzer und zwei Notärzte sind gekommen. Sie alle gehören zum Netzwerk der Gruppe.

Während die Journalisten Fragen stellen und die Fotografinnen Bilder schießen, nimmt Anna ein einjähriges Kind in den Arm und verteilt Schokolade.

Währenddessen kümmern sich die Notärzte um die alte Frau, die nicht mehr gehen kann.

Anwar Abu erzählt den anwesenden Reporterinnen und Reportern auf Kurdisch von dem Weg der Familie nach Polen. In ihrer Heimatstadt Semile hätten sie bei einer Agentur für 2100 Dollar ein Visum für Belarus bekommen. Im kurdischen Autonomiegebiet habe sich seine Familie unsicher gefühlt, zudem gebe es dort kaum Arbeit. Am 24. Oktober hätten sie die Grenze zu Polen erreicht. Und seitdem neun Mal passiert. „Wir sind acht Mal von den polnischen Grenzbeamten wieder nach Belarus gebracht worden.“ Anwar Abu hofft, dass es nicht zum neunten Push-Back kommen wird. Er sagt: „Egal, was passiert. Wir wollen auf keinen Fall zurück nach Belarus.“

Später hält er ein Schild in der Hand: „I ask for Asylum in Poland“ – „Ich bitte um Asyl in Polen.“

Später hält er ein Schild in der Hand: „I ask for Asylum in Poland“ – „Ich bitte um Asyl in Polen.“

Dann tritt die polnische Grenzkontrolle in die Lichtung. Die zehn Beamten tragen schwarze Uniformen, acht von ihnen haben ihre Gesichter vermummt. Ein Mann fordert die Familie auf, aufzustehen.

Die alte Frau wird mit einem Tragetuch zu einem Krankenwagen getragen, der sie zu einem polnischen Krankenhaus fahren wird. Den Rest der Familie führen die Sicherheitsleute in einen Mannschaftswagen. Er bringt sie zu einem Quartier der polnischen Grenzbehörde, wo sie laut den Grenzbeamten Asyl beantragen dürfen.

„Hoffentlich stimmt das“, sagt Anna. „Meiner Erfahrung nach werden die Menschen in 80 Prozent aller Fälle wieder zurück nach Belarus gefahren.“

Die 37-Jährige schließt für einen kurzen Moment die Augen. Als der Mannschaftswagen weggefahren ist, macht sie sich wieder auf den Weg zurück.

Das Schicksal der Familie liegt nicht in ihren Händen.

Die alte Frau wird mit einem Tragetuch zu einem Krankenwagen getragen, der sie zu einem polnischen Krankenhaus fahren wird. Den Rest der Familie führen die Sicherheitsleute in einen Mannschaftswagen. Er bringt sie zu einem Quartier der polnischen Grenzbehörde, wo sie laut den Grenzbeamten Asyl beantragen dürfen.

„Hoffentlich stimmt das“, sagt Anna. „Meiner Erfahrung nach werden die Menschen in 80 Prozent aller Fälle wieder zurück nach Belarus gefahren.“

Die 37-Jährige schließt für einen kurzen Moment die Augen. Als der Mannschaftswagen weggefahren ist, macht sie sich wieder auf den Weg zurück.

Das Schicksal der Familie liegt nicht in ihren Händen.

Team

Text und Recherche Alexander Gutsfeld
Digitales Storytelling Sophie Aschenbrenner
Bildredaktion Daniela Rudolf-Lübke