Unverhofft und heimlich konnte Familie Abu in Belarus durch ein Loch im Grenzzaun nach Polen schlüpfen und loslaufen. Fünf Tage später sitzt die Großfamilie aus der Autonomen Region Kurdistan im Irak in einer Lichtung, eingewickelt in Rettungsdecken. Die Sonne geht gerade unter, die Temperaturen liegen knapp über dem Gefrierpunkt. Auf dem mit Laub bedeckten Boden kauern drei Generationen: Großeltern, Eltern, sieben Kinder. Dann erscheint ein Trupp uniformierter Männer und Frauen.
Und sie wurden zum Spielball eines Konflikts zwischen dem belarussischen Diktator Alexander Lukaschenko und Polens Regierung um Regierungschef Mateusz Morawiecki. Lukaschenko soll Menschen aus Staaten wie Syrien, Afghanistan, Libyen und Irak gezielt nach Belarus einfliegen lassen, um sie in Richtung EU-Grenze zu schleusen.
Sein Ziel: Auf diesem Weg Druck auf die EU auszuüben, Belarus von den europäischen Sanktionen zu befreien. Lukaschenko allerdings hatte die Anschuldigungen zurückgewiesen.
Am Freitag gab die türkische Luftfahrtbehörde bekannt, ihr Land habe Menschen aus Syrien, dem Irak und Jemen Flüge von türkischen Flughäfen nach Belarus ab sofort verboten.
Als Reaktion auf das Vorgehen Lukaschenkos hat Polen nach Angaben des polnischen Verteidigungsministeriums 15 000 Soldaten an die Grenze geschickt. Sie sollen die Flüchtenden daran hindern, die Grenze zu übertreten.
Als der graue Kia voll beladen ist, fährt er damit zu einem Ort, dessen Adresse hier nicht genannt werden soll. Die polnischen Aktivisten wollen nicht, dass der Standort ihrer Unterkunft öffentlich wird. Sie fürchten Angriffe von Rechten und Anfeindungen von Seiten der polnischen Regierung. Seit 2017 kontrolliert die Pis-Regierung, welche zivilgesellschaftlichen Gruppen Gelder erhalten.
Der Ort, an dem die Hilfsgüter gebracht werden, ist ein weißes Haus in der polnischen Provinz. In der Unterkunft hat das Netzwerk Grupa Granita seinen Sitz, das den Flüchtenden in den Wäldern hilft.
„Hier geht es um Leben und Tod“, sagt Anna. „Und trotzdem werden wir von der polnischen Regierung daran gehindert zu helfen.“ Das polnische Parlament hat am 2. September den Ausnahmezustand an einem 418 Kilometer langen und drei Kilometer breiten Grenzstreifen verhängt.
Seitdem ist Journalistinnen und Hilfsorganisationen der Zutritt in das Grenzgebiet verboten. Laut Anna ist die Errichtung der roten Zone ein Eingriff in die Pressefreiheit und unterlassene Hilfeleistung der polnischen Regierung. Während des Gesprächs hat die 37-Jährige ihre Umgebung genau im Blick. Ein älterer Mann beobachtet die Gruppe, die vor dem weißen Haus steht. Nach fünf Minuten bittet Anna alle Anwesenden, das Gespräch an einem anderen Ort fortzusetzen.
Dieser Ort ist ein Gasthaus in der Stadt Michalowo, 30 Kilometer von der Grenze zu Belarus entfernt. Hier bestellt Anna eine Suppe und kann ungestört reden. Trotzdem wirkt sie nervös, schaut immer wieder auf ihr Handy. Viele der Flüchtenden haben die Telefonnummern von Mitarbeitenden der Grupa Granita. Eigentlich für den Notfall, doch der ist fast schon zum Normalfall geworden. Wird sie angerufen, lässt Anna alles stehen und liegen und fährt in den Wald. Vorausgesetzt die Menschen befinden sich außerhalb der roten Zone. Anna sagt: „Ich habe meiner Familie versprochen, nicht ins Gefängnis zu kommen.“
Das Smartphone bleibt erstmal still. Also redet Anna weiter. Sie sagt, dass sie nachts Angst habe, im Wald auf einen toten Menschen zu steigen. Einmal habe ein Bewohner der roten Zone bei ihr angerufen. Er habe dort eine Leiche gefunden. Mindestens sieben Menschen sind nach Angaben der polnischen Polizei bisher im Grenzgebiet gestorben.
Und dann vibriert Annas Smartphone doch. Eine kurdische Familie braucht ihre Hilfe. Es ist Familie Abu. Anna atmet tief durch. „Sechzehn Menschen. So eine große Gruppe hatten wir noch nie.“ Die Familie befindet sich außerhalb der roten Zone. Jetzt muss alles ganz schnell gehen. Anna zieht ihre gelbe Mütze an, wickelt den roten Schal um den Hals und läuft zum Auto. Anna hat eine Mission.
Zu dem Ort im Wald kommt auch eine Gruppe von Journalistinnen und Journalisten. Öffentlichkeit, sagt Anna, sei die einzige Chance für die Familie, nicht sofort wieder abgeschoben zu werden.
Anwar Abu erzählt den anwesenden Reporterinnen und Reportern auf Kurdisch von dem Weg der Familie nach Polen. In ihrer Heimatstadt Semile hätten sie bei einer Agentur für 2100 Dollar ein Visum für Belarus bekommen. Im kurdischen Autonomiegebiet habe sich seine Familie unsicher gefühlt, zudem gebe es dort kaum Arbeit. Am 24. Oktober hätten sie die Grenze zu Polen erreicht. Und seitdem neun Mal passiert. „Wir sind acht Mal von den polnischen Grenzbeamten wieder nach Belarus gebracht worden.“ Anwar Abu hofft, dass es nicht zum neunten Push-Back kommen wird. Er sagt: „Egal, was passiert. Wir wollen auf keinen Fall zurück nach Belarus.“
Dann tritt die polnische Grenzkontrolle in die Lichtung. Die zehn Beamten tragen schwarze Uniformen, acht von ihnen haben ihre Gesichter vermummt. Ein Mann fordert die Familie auf, aufzustehen.