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„Wir schützen vor sexuellem Missbrauch mehr als die Politik“

Foto: Ronja Ebeling

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Die 24-jährige Laura hat ein Puppengesicht, fast schon kindlich. Ihre feinen, langen Wimpern sind perfekt auf dem Lidrand angeordnet und legen sich wie ein Fächer um ihre großen Augen. Sie gleichen denen von Baby Annabell, einer beliebten Spielzeugpuppe. „Wisst ihr, was Kindern und anderen Frauen passiert, wenn man uns nicht arbeiten lässt?“, fragt Laura. Sie hält ein Schild hoch, auf dem in großen Buchstaben steht: „Wir schützen vor Vergewaltigung!“

Laura ist Sexarbeiterin auf dem Straßenstrich der Hamburger Herbertstraße – eigentlich. Am 16. März hat die Bundesregierung angesichts der Corona-Epidemie die Schließung von „Prostitutionsstätten, Bordellen und ähnlichen Einrichtungen“ beschlossen. Seitdem dürfen die rund 33 000 deutschlandweit gemeldeten Prostituierten ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen. Die sehr jung aussehende Laura ist besorgt, denn sie weiß, dass einige ihrer Kunden eine pädophile Neigung haben. Diese lebten ihre Neigung mit Laura aus, sagen sie, um sich eben nicht an Kindern zu vergreifen. Laura und ihre Kolleginnen sagen deshalb: „Wir schützen vor sexuellem Missbrauch mehr als die Politik.“ Und trotzdem würde die Not der Frauen jetzt ignoriert. Die Soforthilfe vom Staat sei nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Auch an Sexarbeit hängen Existenzen

Am Abend des 11. Julis haben sich deshalb Sexarbeiterinnen auf der Hamburger Herbertstraße versammelt, um auf ihre prekäre Lage aufmerksam zu machen. Sie stehen in Kapuzenpullovern und mit bemalten Schildern vor den Schaufenstern, in denen sie eigentlich lasziv sitzen und auf Kundschaft warten würden. Rotlichtscheinwerfer beleuchten ihre zum Teil maskierten Gesichter. Wenn vorbeikommende Touristen ein Foto machen wollen, halten sie die Schilder demonstrativ in die Kamera: „Auch an Sexarbeit hängen Existenzen!“

2017 ist das Prostitutionsschutzgesetz in Kraft getreten, das Sexarbeit in Deutschland legalisiert hat. Es soll Frauen wie Laura schützen und ihnen die Möglichkeit geben, Freier anzuklagen, wenn diese sich zum Beispiel weigern, nach der Dienstleistung den vollen Preis zu zahlen. „Ich höre von Kolleginnen, die derzeit illegal arbeiten, dass Freier nicht bezahlen oder kein Kondom benutzen wollen, wie es das Gesetz eigentlich vorschreibt“, berichtet Laura. Aber das Gesetz existiere jetzt quasi nicht mehr, weil die Arbeit offiziell nicht erlaubt ist. Sexarbeit wandere so in unüberschaubare Bereiche wie Wohnungsprostitution ab. Die Machtverhältnisse verschieben sich zum Nachteil der Frauen enorm. Von Schutz kann keine Rede mehr sein. Laura und ihre Kolleginnen fühlen sich von der Regierung vergessen.

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Foto: Ronja Ebeling

„Wir sind die Vergessenen der Corona-Krise“, heißt es auf dem Schild, das plakativ an der Windschutzscheibe von Nicoles Wohnmobil hängt. Die Straßenprosituierte ist aus Trier angereist. „Das Vorurteil der Politik lautet, dass uns täglich hunderte Männer besuchen. Ich empfange in meinem Wohnwagen zwei Kunden am Tag – normalerweise“, sagt Nicole. Das Vorurteil der Politik – damit meint Nicole die 16 Politiker*innen der CDU und SPD, die im Mai in einem Brief von den Regierungschefs der Länder gefordert haben, das sogenannte Sexkaufverbot auch nach der Krise aufrechtzuerhalten. In einem Schriftstück, das der Deutschen Presse Agentur vorliegt, heißt es: „Es dürfte auf der Hand liegen, dass Prostitution die Wirkung eines epidemiologischen Super-Spreaders hätte - sexuelle Handlungen sind in der Regel nicht mit Social Distancing vereinbar.“

Nicole schüttelt bei diesen Mutmaßungen nur den Kopf. Super-Spreading habe bisher schließlich eher in der Fleischverarbeitung oder Gottesdiensten stattgefunden.

„Jetzt will der Staat aus mir, einer selbstbestimmten Frau, ein Opfer machen“

Ihre Kolleginnen hingegen seien Hygiene-Profis und Nicole verweist auf das Hygienekonzept, das der Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen e.V. (BesD) erstellt hat. Darin steht unter anderem, dass zwischen den Köpfen von Arbeiterin und Gast eine Unterarmlänge Abstand zu halten sei und dass mindestens die Arbeiterin eine Maske tragen müsse, wodurch auch Küsse oder Oralverkehr untersagt werden. Die Kontaktdaten der Kunden würden wie in der Gastronomie gesammelt und nach vier Wochen ordnungsgemäß vernichtet. In der Schweiz ist Sexarbeit unter ähnlichen Bedingungen seit dem 6. Juni wieder erlaubt und auch Österreich und die Niederlande planen in Kürze eine Aufhebung des temporären Verbots.

Nur die Sexarbeiterinnen in Deutschland sehen kein Licht am Ende des Tunnels. „Körpersportarten wie Boxen und Ringen sind schon wieder erlaubt und die schwitzen mehr als ich bei der Arbeit“, sagt Nicole trocken. Es ärgere sie, dass Einrichtungen wie Massagesalons und Enthaarungsstudios, wo der Intimbereich ebenfalls behandelt werde, wieder geöffnet sind, aber erotische Massagen weiterhin untersagt werden. Sie wirft der Regierung Scheinheiligkeit und Naivität vor: „Das Prostitutionsschutzgesetz sollte Sexarbeiterinnen finanziell unabhängig machen. Jetzt will der Staat aus mir, einer selbstbestimmten Frau, ein Opfer machen und mich in die Abhängigkeit von Sozialhilfen treiben? Das kann nicht das Ziel sein!“

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Foto: Ronja Ebeling

Ihre Kollegin Michelle stimmt dem zu und erklärt, dass das Prostitutionsschutzgesetz für viele Politiker nur eine Möglichkeit sei, ein Stück vom Kuchen abzubekommen: „Wir sind Steuerzahler erster Klasse und für sie trotzdem Menschen zweiter Klasse. Das sehen wir jetzt.“ Sie ist Mitte vierzig und war jahrelang selbst als Sexarbeiterin tätig. Heute arbeitet sie als sogenannte Wirtschafterin und ist somit Ansprechpartnerin für die Frauen und unter anderem für die Sicherheit auf der Herbertstraße zuständig. Sie kennt die Kunden: „Das sind hohe Tiere aus Politik und Wirtschaft, die jetzt behaupten, uns nicht zu kennen.“

Menschenhändler profitieren von der Schließung der Bordelle

Naiv seien Politiker, die behaupten, dass mit der Schließung der Bordelle auch der Menschenhandel aufhöre. Das Gegenteil ist der Fall: Menschenhändler haben gerade freie Bahn. Darauf macht auch ein offener Brief der Fachberatungsstelle Ban Ying aufmerksam, die sich gegen den Menschenhandel einsetzt. In dem Brief wird beschrieben, wie zum Beispiel eine junge Frau aus ihrem Heimatland nach Deutschland gelockt wird, weil Verwandte ihr eine Stelle als Au-pair versprechen. Die Argumentation klingt zunächst glaubwürdig, denn durch die monatelang geschlossenen Schulen können sicherlich viele Familien Unterstützung bei der Kinderbetreuung gebrauchen. In Deutschland wird die junge Frau dann zur Prostitution gezwungen und ist zum Teil massiver Gewalt ausgesetzt. Die Fachstelle Ban Ying berät die betroffenen Frauen zu ihren Rechten und macht auf die Schicksale aufmerksam.  Gleichermaßen betont Valiant Richey, der Sonderbeauftragte der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, in einem Statement, wie sehr Menschenhändler von der Krise profitieren.

Die Botschaft von Laura, Nicole, Michelle und ihren Kolleginnen ist daher klar: Mit jedem Verbot von legaler Sexarbeit wird die Branche in die Illegalität getrieben und Menschenleben werden aufs Spiel gesetzt. Nicole schlägt daher vor, Vorzeigeprojekte wie den legalen Kölner Straßenstrich sofort wieder zu eröffnen, damit Frauen unter Polizeischutz und Hygieneauflagen ihre Arbeit ausüben können. Außerdem sollten zuständige Beratungsstellen finanziell unterstützt und ausgebaut werden, um Aufklärungsarbeit zu leisten und die Frauen über ihre Rechte im Gewerbe zu informieren. Nicole betont: „Diese Maßnahmen würden Deutschland wieder sicherer machen – für alle.“

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