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Wenn die eigene Generation nach rechts rückt

Foto: Kacper Pempel / Reuters

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Um uns herum knallen Böller, Bengalos hüllen den Platz in roten Rauch. Ich sehe: aggressive, bedrohliche Männergruppen, sie putschen sich mit Alkohol auf. Ich höre: ihre Parolen. Gerade grölen sie, sie „ficken den Kommunismus“, da sagt Marcin: „Ist das nicht wunderschön? Hier ist unser Vaterland vereint“. Marcin sieht: den Platz um Warschaus Wahrzeichen voller weiß-roter Flaggen. Marcin hört: wie eine Mutter ihrem Kind von tapferen polnischen Kämpfern erzählt.

Es ist Sonntag, der 11. November und wir Polen feiern die hundertjährige Unabhängigkeit unseres Landes mit einem Marsch. Genau genommen feiern die anderen. Ich stehe dabei und fühle mich fremd. Später spreche ich mit Marcin, einem Freund meiner Mitbewohnerin, über das, was wir gesehen haben. Wir hätten auch an zwei verschiedenen Orten sein können, so sehr unterscheiden sich unsere Eindrücke. Seit den Präsidentschaftswahlen 2015 weiß ich, dass meine Generation in Polen nach rechts rückt. Doch erst auf dem Unabhängigkeitsmarsch unter normalen Mittzwanzigern begreife ich, warum das so ist.

Kurz vor Beginn des Marsches, an dem 200.000 Personen teilnehmen werden: Marcin, seine Freundin Monika und meine Mitbewohnerin Gosia drücken sich aneinander. Über ihren Köpfen flattert Marcins riesige Polenflagge. Ich bin in Deutschland aufgewachsen. Nationalstolz bereitet mir Unbehagen, ein Foto mit Flagge auch. Also grinsen sie in die Kamera und ich fotografiere. Später werden allerdings ganz andere Bilder durch die europäischen Medien gehen. Sie zeigen eine brennende EU-Fahne und vermummte Rechtsextremisten. Ein ungarischer Kollege ruft mich an, er sei wegen unserem verrückten Extremistenmarsch in der Stadt. Ein belgischer Freund schreibt mir: „Die aggressive Seite der polnischen Flagge, die Kraft des Patriotismus, das ist kompliziert in Zeiten des aufflammenden Faschismus“. Europa sorgt sich.

Junge Polen arbeiten oft für europäische Unternehmen. Gleichzeitig wählen sie konservativer als ihre Eltern

Die jungen Polen verstehen die Aufregung nicht. Patriotismus gehört für sie zum guten Ton, nicht zum rechten Rand. Wer in Polen an diesem Tag seine Freiheit feiern will, kommt zum Kulturpalast und marschiert von dort über die Weichsel zum Nationalstadion. Zwar organisiert seit Jahren die rechtsextreme Bewegung ONR (Radikal Nationales Lager) den Marsch. Doch wenige Tage vor der Veranstaltung verkündet die Regierung, dass sie an selber Stelle feiern wird. Es entstehen folglich zwei Märsche, die Regierung geht voran, mit etwas Abstand folgen die Rechtsextremen. Marcin findet nicht, dass er den ONR unterstützt, wenn er am Marsch der Regierung teilnimmt. „Ich bin schließlich hier, um die jungen Leute zu feiern, die für die Freiheit Polens gestorben sind“, sagt er. Seine Freundin und er sind extra am Vorabend aus Danzig angereist, beim gemeinsamen Biertrinken in unserer WG hatte er noch gesagt: „In uns Polen fließt heißes Blut, der Kampfgeist liegt uns in den Genen.“ Und: „Sollte ein Krieg ausbrechen, werden wir wieder zu Hunderttausenden fallen, denn wir lassen uns nicht in die Knie zwingen.“

Junge Polen arbeiten oft für europäische Unternehmen, die Mehrheit befürwortet die EU. Gleichzeitig wählen sie konservativer als ihre Eltern. Zwei Drittel der Wähler zwischen 18 und 29 stimmten bei den Wahlen 2015 für rechte Parteien. Die meisten Stimmen gaben sie der nationalkonservativen PiS, die heute die Regierung stellt. Ein Fünftel wählte Kukiz’ 15, eine Bewegung von Nationalisten und Populisten um den ehemaligen Rockstar Pawel Kukiz. Am dritthäufigsten stimmten sie für die Freiheitspartei des Europaskeptikers Janusz Korwin-Mikke. Manch einer erinnert sich vielleicht an den Mann: Er erklärte vergangenes Jahr im EU-Parlament, Frauen sollten weniger verdienen, weil sie schwächer, kleiner und weniger intelligent seien.

Einer der Gründe für den Rechtsruck der Jungen ist ihre Verachtung für politische Eliten und Parteien. „Dieses Jahr haben Monika und ich gar nicht gewählt“, sagt Marcin, „Es sind doch keine freien Wahlen, wenn seit Jahren die gleichen Leute an den Parteispitzen sitzen.“ Er findet, alle Parteien hätten die Bürger schon mal belogen und bestohlen. Wie der Großteil der jungen Polen wählte er 2015 die nationalkonservative PiS und in den Jahren zuvor die liberale PO. Wie der Großteil der jungen Polen bleibt er keiner Partei treu. In den vergangenen Jahren tauchten politische Alternativen vor allem rechts der Mitte auf. An ihnen orientierten sich junge Wähler.

Am Unabhängigkeitsmarsch vergangenen Sonntag sah man einen weiteren Grund für den Patriotismus der jungen Polen: Die Geschichte nährt den Mythos eines Opferstaats. Polen versteht sich als eine Nation, die selbst von Verbündeten hintergangen wird. Marcin lachte, als er sagte, Polen habe nun einmal einfach Pech gehabt mit seiner geopolitischen Lage, eingequetscht zwischen den strebsamen Deutschen und den starken Russen. „Wir müssen zusammenhalten, um uns zu schützen”, sagt er. Denn immer, wenn Polen stark war, seien die Nachbarstaaten schwach gewesen. Deshalb läge es in ihrem Interesse, die Polen zu schwächen.

Das Polnische war nie gut genug

Noch stärker als die Geschichte prägte die jungen Polen die Zeit, in der sie aufwuchsen. Bis in die frühen 2000er füllten meine Eltern ihren Kofferraum mit Schokolade und Kaffee, bevor wir unsere Verwandten in Polen besuchten. Milka und Jacobs lagen da schon längst in den polnischen Läden. Anfangs waren sie noch zu teuer, später blieb die Gewohnheit. Als wir nach zwölf Stunden Autofahrt ankamen, überreichten wir mit der geschmolzenen Schokolade den Beigeschmack eines besseren Westens. Die jungen Polen erinnert sich nicht an den Sozialismus. Als sie Kinder waren, gründeten ihre Eltern Unternehmen und priesen den Westen. Das Polnische war nie gut genug. Die damalige Regierung setzte auf wirtschaftliche Reformen, um den Wiederaufbau einer nationalen Identität kümmerte sie sich nicht. Davon hat die junge Generation jetzt genug.

Das Wahlverhalten der polnischen Jugend gilt als schwer berechenbar. Soziologen und Autoren überlegen, ob die rechte Orientierung nur eine kurze Modeerscheinung sei. Doch während die Jungen den alten Parteien immer weiter misstrauen, schenken sie neuen Bewegungen gerne ihre Aufmerksamkeit. Diese bauen ihre Strukturen aus, gewinnen Erfahrung und Einfluss, abseits des Parteiensystems. Hier kann der polnische Patriotismus den politisch unabhängigen jungen Polen gefährlich werden: In seinem Namen gewährt die junge Generation Positionen, die ihren eigenen Werten widersprechen.

Kurz nachdem ich das Foto von Marcin, Monika und Gosia vor dem Kulturpalast mache, kommen zwei junge Männer auf uns zu. Sie stellen sich als Mitglieder der rechtsextremen Jugendorganisation Młodzież Wszechpolska vor, sie wirken freundlich. Ob wir den nicht beitreten möchten? Marcin quatscht nett mit ihnen, sie geben uns Flyer. Monika sieht Marcin fragend an. „Die sind ganz in Ordnung, nicht so radikal wie andere Bewegungen“, sagt er. Zwei Tage nach dem Marsch twittert der Vorsitzende der Organisation, sein Schatzmeister habe ihn angezeigt, weil er die EU-Fahne angezündet habe. Er wolle das nicht bestreiten. Die Behörden könnten also die 5000 Zloty, die sie für Hinweise zum Täter versprochen haben, direkt an das Konto der Bewegung überweisen.

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