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„Das Vermögen der unteren Hälfte wächst nicht“

Für ihr Buch hat Julia Friedrichs über ein Jahr lang Menschen begleitet, die zur modernen Working Class gehören.
Foto: Andreas Hornoff

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Die Generationen nach den Babyboomern sind die ersten nach dem Zweiten Weltkrieg, die ihre Eltern wirtschaftlich nicht übertreffen werden. Sich Wohlstand aus eigener Kraft zu erarbeiten, ist schwieriger geworden und vielen droht später die Altersarmut. Was sind die Ursachen für diesen gesellschaftlichen Umbruch?

Julia Friedrichs hat für ihr Buch „Working Class“, das am 1. März im Berlin Verlag erscheint, Menschen begleitet, die dachten, dass Arbeit sie durchs Leben trägt, die reinigen, unterrichten, jeden Tag ins Büro gehen und merken, dass es trotzdem nicht reicht. Und sie hat mit Expert*innen und Politiker*innen gesprochen, um herauszufinden, was schiefgelaufen ist. Im Interview erzählt sie von ihrer Recherche, der Schuld unserer Eltern- und Großelterngeneration und warum sie während der Arbeit oft die „Lindenstraße“ geschaut hat.

jetzt: Julia, wie definierst du Working Class?

Julia Friedrichs: Working Class sind für mich Menschen, die allein aus Arbeit heraus ihr Leben finanzieren müssen, ohne Vermögen, Rücklagen, Eigentum oder Fonds. Demnach wäre in Deutschland ungefähr die Hälfte der Menschen Teil der Working Class.

Viele denken bei dem Begriff eher an den Arbeiter am Fließband der Automobilfabrik.

Sich bei der Definition auf Ausbildungsgänge oder bestimmte Berufe zu beschränken, finde ich veraltet. Die Musikschullehrerin mit Examen, die auf Honorarbasis arbeitet, gehört genauso zur Working Class wie der ungelernte U-Bahn-Reiniger. 

Die Musikschullehrerin Alexandra, der U-Bahn-Reiniger Sait oder Christian, der bei einer Firma angestellt war, die Teilnehmer*innen für die Marktforschung castet: Du hast diese und weitere Menschen mehr als ein Jahr lang begleitet. Wieso hast du sie ausgewählt?

Ich wollte, dass die Vielfalt der Working Class sichtbar wird. Mir war aber auch wichtig, dass diese Menschen eine Geschichte haben, die über ihre Werktätigkeit hinausgeht, weil ich wollte, dass man ihnen lange zuhört und bereit ist, sich auf ihre Leben einzulassen.

Welche Geschichten waren das?

Zum Beispiel, dass der Sohn des Musikschullehrer*innen-Paars überlegt, selbst Musiker zu werden, und die Eltern sich fragen, ob sie ihm davon abraten sollen. Weil sie wissen, dass das, was sie lieben, sie in diese schwierige finanzielle Lage gebracht hat. Ich habe auch mit vielen Menschen gesprochen, die Depressionen oder einen Burn-out bekommen haben, weil die Inbrunst, mit der sie ihren Job machten, von der Firma nicht zurückgezahlt wurde. Christians Geschichte erzählt davon.

Ist das ein typisches Symptom der modernen Working Class? Dass die Menschen ausbrennen, weil sie beruflich nicht vorwärts kommen?

Ja, ich glaube schon. Früher konnte man bei den meisten Unternehmen eine klassische Laufbahn machen: Man hat unten angefangen und sich hochgearbeitet, bis man nach 45 Dienstjahren mit einem dicken Blumenstrauß verabschiedet wurde. Die Arbeitsbeziehung war als lebenslange Ehe angelegt. Bis heute gibt es Arbeitnehmer*innen, die sich mit Haut und Haaren einem Unternehmen hingeben, aber die Beziehung ist von dessen Seite eher als Affäre geplant: So lange es geht, geht’s, sonst ist Schluss. Darum knirscht es oft.

„In den USA kann man bereits messen, dass die Arbeitsmotivation der unteren Mittelschicht nachlässt“

Du hast auch mit Menschen gesprochen, die mit den sehr Reichen arbeiten, zum Beispiel mit einem Vermögensverwalter. Was hast du aus diesem Treffen mitgenommen?

Dass es am anderen Ende gut läuft. Das Vermögen der unteren Hälfte wächst nicht, während die Reichen abheben. Ich war in einem „Family Office“, also einem Büro, das sich um die Pflege des Vermögens von sehr reichen Menschen kümmert und für sie überlegt: Kaufen wir damit Wald? Immobilien? In welchen Hedgefonds gehen wir? Das ist weit von dem entfernt, was andere machen können.

Ungleichheit kann auch Ansporn sein. 

Klar, beim Monopoly ist es auch ein Ansporn, wenn einer mit drei Straßen mehr gestartet ist, weil man ihn noch einholen kann. Aber wenn er jedes Mal, wenn er über „Los“ geht, das Zehnfache von dem einstreicht, was ich bekomme, ist das kein Wettbewerb mehr, sondern … 

… unfair?

Genau. In den USA kann man bereits messen, dass die Arbeitsmotivation der unteren Mittelschicht nachlässt. Wenn du immer machst und tust und es haut trotzdem nicht hin, dann hörst du auf lange Sicht auf, zu machen und zu tun. Das ist natürlich fatal.

Als einen der Gründe für die ungleiche Vermögensverteilung nennst du das aktuelle Verhältnis von Finanz- und Realwirtschaft.

In den Siebzigerjahren waren sie etwa gleich groß und die Finanzwirtschaft ein Dienstleister der Realwirtschaft: Sie hat Geld geliefert und damit wurden Dinge hergestellt. Inzwischen ist die Finanzwirtschaft viermal so groß wie die Realwirtschaft und das System funktioniert nach ihren Logiken. Am Beispiel Karstadt kann man das gut sehen: Ich glaube, man tritt dem Haupteigentümer René Benko nicht zu nahe, wenn man sagt, ihm geht es nicht nur darum, zukunftsträchtige Warenhäuser zu etablieren, sondern um das Investment in die guten Immobilien, die an Wert gewinnen und verkauft werden können. Von der tatsächlichen Arbeit bei Karstadt ist das weit entfernt – und damit auch von den Angestellten. Die merken natürlich, dass für das Unternehmen nicht mehr allein zählt, wie gut sie als Verkäufer*in von Salat sind, sondern wie sich der Immobilienpreis des Kaufhauses entwickelt, in dem sie den Salat verkaufen.

Wer heute Teil der von dir beschriebenen Working Class ist, hat allerdings häufig noch mitbekommen, wie Eltern oder Großeltern sich durch ihre Arbeit Vermögen aufbauen konnten. Was macht das mit den jüngeren Generationen?

Es lässt uns schwer erkennen, warum es heute anders ist. Ich habe bei Veranstaltungen erlebt, dass Menschen, die in der alten BRD groß geworden sind, immer noch davon ausgehen, dass für jemanden, der sich anstrengt, alles möglich ist, und das auch so weitergeben: „Ich habe als Schlosserlehrling angefangen und jetzt besitze ich vier Häuser, jeder kann das schaffen!“ Aber sie erzählen von einem anderen Land. Wir sehen in allen Daten, dass es in den Achtzigern und Anfang der Neunziger einen Bruch gab. Damals sind viele Dinge gleichzeitig passiert.

„Von denen, die nach 1980 geboren wurden, schafft es nur noch die Hälfte, mehr Wohlstand aufzubauen als die eigenen Eltern“

Welche?

Die bestehenden Vermögen sind größer geworden, die Löhne in den unteren Segmenten gesunken, die Berufsbiografien wurden brüchiger, es gab zum Beispiel immer mehr befristete Verträge, und die Sozialabgaben sind gestiegen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Ziel „Meine Kinder sollen es einmal besser haben“ jahrzehntelang erreicht – aber von denen, die nach 1980 geboren wurden, schafft es nur noch die Hälfte, mehr Wohlstand aufzubauen als die eigenen Eltern. Vor allem gelingt es denen nicht mehr, bei denen es wichtig wäre, weil es ihren Familien nicht supergut geht. 

Die vermögenden älteren Westdeutschen nennst du in deinem Buch die „goldene Generation“. Was zeichnet sie aus?

Sie sind Glückskinder und waren immer zur richtigen Zeit im richtigen Alter: Als das deutsche Bildungssystem ausgebaut wurde, sind sie zur Schule und an die Unis gegangen, als es hohe Zinsen gab, konnten sie sparen und Immobilien erwerben, jetzt sind sie alt und bestens versorgt. Es würde mich freuen, wenn sie dieses Glück anerkennen und teilen würden. Wenn etwas weitergegeben wird, dann an die eigenen Kinder und Enkel, aber das nützt ja all den anderen nichts. 

Allerdings sind auch heute schon fast 17 Prozent der Senior*innen von Altersarmut betroffen

Das stimmt. Es gibt auch unter älteren Menschen Armut und natürlich ist das schlimm, das will ich gar nicht kleinreden. Aber unter dem Strich ist keine Generation so wohlhabend wie die aktuell ältere.  

Kann man der „goldenen Generation“, der es heute so gut geht, denn den Vorwurf machen, auf unsere Kosten gelebt zu haben?

Ich finde schon. Viele wussten, dass die Rechnung nicht aufgeht und dem System mehr entnommen als hineingegeben wurde. Das ist analog zur Klimakrise: Auch unserer Generation wird man zurecht vorwerfen, dass wir davon wussten und nicht gehandelt haben. Aber auch wir neigen dazu, zu sagen: „Puh, gut, dass wir noch davonkommen sind.“ 

Kevin Kühnert, den du für das Buch interviewt hast, sagt, dass die junge Generation zwar für mehr Klimaschutz auf die Straße geht, aber sich nicht genug für ihre sozialen Rechte einsetzt. Müssen die Jungen lauter werden?

Ja, denn viele sind zu sehr daran gewöhnt, Probleme im Arbeitsleben als individuell zu verstehen und sich nicht mehr gemeinsam dagegen zu organisieren.

„Das Modell des Mietkaufs finde ich sehr überzeugend“

2015 wurde der Mindestlohn eingeführt, um die Lage der Geringverdiener zu verbessern. Warum hat er nichts geändert?

Der hat schon etwas verändert. Für die untersten Einkommen hat er die Lage verbessert und führt oft dazu, dass die Löhne direkt darüber ebenfalls steigen. Ich glaube aber, dass er zu niedrig ist. Wer ihn bekommt, müsste davon ein gutes und sicheres Leben führen können. Außerdem erfasst er nur die Beschäftigten in regulären, sozialversicherungspflichtigen Jobs – das Musikschullehrer*innen-Paar hat Honorar-Verträge, an denen seit 2011 nichts mehr geändert wurde.

Nur elf Prozent der Deutschen haben Aktien, ihr Vermögen wächst heute meistens noch. Müssen wir alle in Aktien investieren, weil man allein durch Arbeit oft keine finanzielle Sicherheit mehr aufbauen kann?

In den vergangenen Jahre hätte man damit gute Chancen gehabt, aus wenig Erspartem Vermögen aufzubauen. Aber sollte man jemandem, der nicht weiß, ob er seinen Kindern Wintermantel und -schuhe wird kaufen können, ernsthaft raten, in Aktien zu investieren? Obwohl die Gefahr besteht, dass die Person sich damit nicht auskennt und Geld verliert? Ich glaube, da könnte es klügere Modelle geben.

Zum Beispiel?

Ein Staatsfonds, wie ihn die Norweger haben. Dadurch würde nicht jeder einzeln an der Börse spekulieren, sondern Geld aus Vermögen würde in einen gemeinsamen Fonds eingezahlt, aus dem jede*r einen Teil ausgezahlt bekommt.

Du forderst in deinem Buch auch eine neue Vermögenspolitik. Was könnte Teil davon sein?

Der genannte Staatsfonds zum Beispiel. Aber auch das Modell des Mietkaufs finde ich sehr überzeugend: Der Staat würde bauen und Bewohner*innen würden über die Miete die Wohnung Stück für Stück kaufen. So könnten Familien aus der unteren Mittelschicht Eigentum erwerben, ohne Kapital aufbringen zu müssen. Ein anderes gutes Modell ist die soziale Erbschaft, bei der ein Teil aller Erbschaften in einen Fonds eingezahlt und daraus ein Startkapital für junge Menschen finanziert wird. Insgesamt müsste der Staat das Thema Vermögensaufbau ernster nehmen, stattdessen ist das Budget dafür in den vergangenen Jahren stark zurückgegangen. Gerade für Menschen aus ostdeutschen Familien oder Familien mit Migrationsgeschichte wäre es total wichtig, dass sie Vermögen aufbauen können, weil sie keinen Teil der westdeutschen Wirtschaftswunderjahre via Erbschaft abgreifen werden. 

Du hast für deine Recherche auch deutsche Familienserien aus den Achtzigern angeschaut, zum Beispiel „Lindenstraße“ und „Die Schwarzwaldklinik“. Warum?

Ich habe versucht, in die westdeutschen Achtziger zurück zu reisen, weil mir viele Ökonom*innen gesagt haben: „Danach kam es zum Bruch.“ Und diese Serien hatten den Anspruch, den Alltag exakt nachzuerzählen. Es gibt Szenen, in denen Hans Beimer in der „Lindenstraße“ minutiös seine Ausgaben protokolliert – und offensichtlich konnte damals ein Sozialarbeiter mit drei Kindern als Alleinverdiener mitten in München leben. Gleichzeitig war ich total erschüttert, wie schrecklich das Familienbild in diesen Serien war, wie mies die Frauen behandelt und wie die Männer hofiert wurden. Das hat sehr geholfen, um nicht zu denken: „Ich will dahin zurück.“ Das will ich keine Sekunde, sondern ich finde, wir sollten über etwas Neues nachdenken. Etwas Besseres.

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