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„Du kannst nur Pazifistin sein, wenn du nicht bedroht wirst“

Die litauische Olympiaschwimmerin Ruta Meilutyte schwamm für eine Kunstaktion durch einen blutrot gefärbten See.
Foto: Neringa Rekasiute, Berta Tilmantaite, Ruta Meilutyte, Aurelija Urbonaviciute

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Eine Frau schwimmt durch blutrot gefärbtes Wasser – im Teich vor der russischen Botschaft in Vilnius, der Hauptstadt Litauens. Eine politische Botschaft: Mit der Protestaktion „Swimming Through“ will die Künstlerin Neringa Rekasiute auf die russischen Gräueltaten in der Ukraine aufmerksam machen. Die 33-Jährige gilt als eine der aktuell wichtigsten jungen Stimmen Litauens. Denn sie gehört zu der ersten Generation, die nach der 50-jährigen Besatzung des Sowjetregimes in Frieden und Demokratie aufgewachsen ist. Wie viele Litauer:innen glaubt auch Neringa: Wenn die Ukraine fällt, könnten sie die Nächsten sein. Wir haben die Künstlerin in Vilnius getroffen und sie gefragt, wieso viele junge Litauer nun beginnen, das Kämpfen zu erlernen, warum die Bedrohung Russlands ein Trauma wiederaufleben lässt und inwieweit es ein Privileg ist, Pazifistin zu sein.

jetzt: Neringa, wie hast du den ersten Morgen im Krieg erlebt?

Neringa Rekasiute: Ich weiß noch, dass mein Partner an dem Morgen schon wach war und ich sofort gemerkt habe: Irgendetwas stimmt nicht. Seine ersten Worte waren dann auch nicht: „Ich liebe dich“ oder „Guten Morgen“, sondern „Der Krieg hat begonnen.“ Ich weiß noch, wie ich diese Worte gehört habe, aber sie in dem Moment nicht greifen konnte.

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Foto: Greta Zaveckaitė

Woran lag das?

Meine Generation ist die erste, die sicher in Litauen aufgewachsen ist, in Frieden, mit offenen Grenzen. Wir können überall hingehen – und dann heißt es auf einmal: Der Krieg beginnt. Natürlich habe ich auch den Syrienkrieg verfolgt. Aber so nah, so intensiv habe ich den Krieg noch nie erlebt. Wir teilen mit der Ukraine dieselbe Kultur, dieselbe schreckliche Geschichte: die Besetzung durch das Sowjetregime. Dieses kollektive Trauma sitzt noch immer tief in unserer Gesellschaft.

Auch bei der jüngeren Generation?

Wir haben in der Schule, von unseren Eltern und Großeltern immer wieder gehört, was alles passiert war. Viele Menschen haben in Litauen ihr Leben verloren. Russische Einwanderer kamen hierher, übernahmen die Häuser derjenigen Menschen, die vom Sowjetregime ermordet wurden. Die Leute haben extrem gelitten und Russland hat sich nie für die Verbrechen entschuldigt. Ich wusste das alles, aber ich habe es nie als mein Trauma betrachtet.

„Wir kennen dieses Gefühl, auf Hilfe zu warten“

Hat sich das verändert?

Durch die russische Invasion in die Ukraine wurde uns allen in Litauen klar, dass unser Land nicht geheilt ist, und dass auch wir Jüngeren dieses Trauma in uns tragen, als wäre diese 50-jährige Besetzung des Landes in unseren Genen. Das ist vielleicht auch der Grund, warum die Solidarität der Litauer gegenüber den Ukrainern so stark ist.

Inwiefern?

Die Menschen haben sich vom Westen im Stich gelassen gefühlt, als die Sowjets das Land nach dem Zweiten Weltkrieg überfielen. Litauische Partisanen kämpften im Wald gegen die Sowjets, verteidigten das Land und baten die USA, zu helfen. Aber niemand kam. Wir kennen also dieses Gefühl, auf Hilfe zu warten. Für uns Litauer war daher sofort klar: Wir helfen der Ukraine. Es sind unsere Brüder und Schwestern, die dort sterben. Sie kämpfen für uns.

Hat der Krieg für dich persönlich etwas verändert?

Meine Freunde und ich waren immer sehr linksorientiert, haben Bücher über Feminismus und Marxismus gelesen. Wir sprachen darüber, wie verrottet das kapitalistische System ist. Aber erst jetzt verstehe ich, was es für eine Freiheit ist, sich überhaupt über ein System beschweren zu können, zu protestieren – ohne dafür in Haft zu landen. Als mir klar wurde, dass die Russen Krieg führen gegen alles, wofür wir stehen und woran wir glauben, hat sich viel für mich verändert. Ich schätze es, in einer Gesellschaft leben zu können, in der man Kritik äußern darf. Und jetzt wird das alles bedroht.

„Im Sommer möchte ich auch das Kämpfen lernen“

Würdest Du auch selbst zur Waffe greifen, um dein Land zu verteidigen?

Ja. Vor dem Krieg war ich Pazifistin, jetzt nicht mehr. Es geht vielen so in meiner Generation. Die meisten meiner Freunde sind bereits einer paramilitärischen Organisation hier in Litauen beigetreten, wo sie an Wochenenden lernen, wie man kämpft und sich verteidigt. Auch ich habe gleich zu Beginn des Kriegs die Unterlagen zur Anmeldung angefordert. Aber gerade möchte ich noch meine Kunstprojekte machen und mich voll darauf konzentrieren. Im Sommer möchte ich dann auch das Kämpfen lernen. Denn: Zivilisten sind die Opfer der modernen Kriegsführung. Allein all die Geschichten über systematische Vergewaltigungen, es ist furchtbar. Es ist sehr wichtig, dass das ganze Land weiß, wie man sich wehren kann. Ich hoffe, dass ich nie jemanden töten oder eine Waffe abfeuern muss. Aber ich möchte wissen, wie die Waffe funktioniert, wie man kämpft, für den Ernstfall. Und das geht vielen jungen Menschen so.

Befürchten die Litauer denn, dass Russland das Land angreifen könnte?

Wenn die Ukraine fällt, ja. Das Baltikum ist definitiv ein potenzielles Ziel Russlands. Und Russland sieht, wie unfähig wir als Europäische Union sind, wirklich harte Sanktionen zu verhängen. Russland kann die Schwäche der Demokratie, die Schwäche der Gespräche, die wir haben, sehr gut manipulieren.

Aber Litauen ist Teil der NATO. Ist das nicht auch eine Sicherheit?

Natürlich fühlen wir uns dadurch stärker. Aber es hängt auch so viel davon ab, was in der Welt passiert. Was ist zum Beispiel, wenn Trump 2024 in den USA wiedergewählt wird? Was ist, wenn es dort eine Art Revolution gibt, Unruhen? Die NATO könnte ins Wanken geraten. Alles ist miteinander verwoben. Wir wissen nie, was passiert, wie sich diese Dinge gegenseitig beeinflussen. Deswegen bereiten wir uns auf einen potenziellen Angriff vor.

„Gleichzeitig wollten wir auch etwas Hoffnung geben“

Anfang April hast du in einer Performance den Teich vor der russischen Botschaft in Vilnius blutrot gefärbt. Was wolltest du damit bewirken?

Ich und meine Freunde, die die Aktion geplant haben, wollten auf die russischen Kriegsverbrechen, auf die vielen Ermordeten in der Ukraine hinweisen, auf das Blut, das vergossen wurde. Und gleichzeitig wollten wir auch etwas Hoffnung geben. Deswegen haben wir die litauische Olympiaschwimmerin Ruta Meilutyte gefragt, ob sie durch den See schwimmen kann – als Zeichen der Hoffnung. Ruta ist hier extrem berühmt, quasi die Tochter Litauens. Und sie hat es getan. An dem Morgen hatte es vier Grad, es hat geschneit. Es war also eine ziemlich große Herausforderung. Wir wollten international Aufmerksamkeit erregen und das haben wir auch geschafft.

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Foto: Neringa Rekasiute, Berta Tilmantaite, Ruta Meilutyte, Aurelija Urbonaviciute
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Foto: Neringa Rekasiute, Berta Tilmantaite, Ruta Meilutyte, Aurelija Urbonaviciute

Kann Kunst also eine Möglichkeit sein, über den Krieg zu berichten?

Ja, gerade, wenn die Menschen müde werden vom Elend, von Menschen, die leiden. Viele wollen abschalten. Das ist der Zeitpunkt, an dem die Kunst eingreifen muss. Man findet so einen anderen Zugang, um über das Leid zu berichten. Man bringt die Menschen zum Nachdenken und Reflektieren. Und viele Litauer merken nun: Sie wollen ihr Land, das sie lieben, verteidigen.

Würdest du sagen, dass die Litauer durch den Krieg patriotischer geworden sind?

Auf jeden Fall. Noch vor Kurzem gab es diese Bewegung von wenigen, aber dafür sehr lauten Menschen, die gegen die Corona-Impfung protestiert haben, aber zum Beispiel auch gegen die LGBTQ-Gemeinschaft. Das Schlimme war, dass sie dabei die litauische Flagge geschwenkt haben. In allen Ländern gibt es Menschen, die diese Symbole missbrauchen. Jetzt haben wir, die jüngere Generation, sie zurückerobert: Litauische Flaggen und Symbole, für die richtige Sache, für einen guten Zweck. Wir stehen zur Ukraine, wir stehen zu Menschenrechten, zu der LGBTQ-Gemeinschaft. Litauen ist ein freies, demokratisches Land, dafür schwenken wir nun die Fahnen. All das, wogegen Russland ankämpft. Ich bin stolz auf mein Land.

„Man kann uns alle nicht in eine Schublade stecken“

Verstehen westliche Länder wie Deutschland die litauische Perspektive auf den Krieg?

Es gibt diesen Begriff des „Westplaining“. Westliche Länder erklären uns, wie die Situation für uns ist. Sie tun so, als wüssten sie, was die Ukrainer durchmachen oder sie sagen: Ach, so schlimm war es doch gar nicht, was ihr in der Sowjetunion erlebt habt. Ich denke, was die Menschen im Westen oft nicht verstehen: Man kann uns alle nicht in eine Schublade stecken. Für mich war auch dieser Brief einiger deutscher Intellektueller und Künstler sehr schmerzhaft zu lesen, in dem sie der Ukraine eine Kapitulation nahelegen. Diese Leute verstehen nicht, wofür die Ukrainer kämpfen: für ihr Land, ihre Existenz, ihre Identität. Viele Westler sehen das Ganze vielleicht sehr naiv, weil sie diese Bedrohung nicht kennen. Sie können nicht verstehen, was wir durchgemacht haben, wer wir sind.

Was würdest du jungen Deutschen gerne sagen?

Wie schon gesagt: Ich bin selbst Feministin und war bislang auch Pazifistin, Kriegsgegnerin. Aber es ist ein Privileg, so zu sein. Du kannst nur Pazifistin sein, wenn du nicht bedroht wirst, wenn dich niemand vergewaltigen, dein Land angreifen, deine Existenz zerstören will. Wenn du wirklich verstehen willst, wie es hier ist, musst du den Ukrainern zuhören.

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