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Salz

Text: irrgaertnerin
Sollte ich jemals eine Speise nennen müssen, die mich an die neunziger Jahre erinnert, so wäre das Kräutersalz. Das aß ich damals nämlich in Mengen, Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter. Das gesamte Jahr neunzehnhundertsechsundneunzig hindurch. So ist es mir zumindest im Gedächtnis geblieben, das Kräutersalz und das Jahr, indem ich anfing Packungsbeilagen zu katalogisieren und Wörter rückwärts zu denken. In dem ich Pommes mit Kräutersalz aß und selten aus dem Fenster starrte. In dem Mama mich ein, zweimal zu stark umarmte und ich nickte, wenn sie sagte: „Alles geht vorbei.“

Mama hatte auch meist Recht mit den Dingen die sie sagte, auch im Bezug auf das Kräutersalz, das ich bis heute nicht mehr essen kann, ohne Magenschmerzen zu bekommen. Psychosomatisch sei das, sagt Mama dazu und auch dabei widerspreche ich ihr nicht. Sie ist dünn geworden im neuen Jahrtausend, sie hat mit dem Klavier spielen angefangen, manchmal steht sie im Türrahmen, wenn ich nachhause komme und winkt mir zu. Mein Kind, sagt sie dann und lacht. Ich meine das ernst, sie lacht tatsächlich und hält mir die Tür auf, während ich in die Küche schlurfe, welche immer noch zu dämmrig ist und nach Essen riecht, das hier lange niemand mehr gegessen hat. Über zehn Jahre schon nicht mehr und auch die nächsten zehn Jahre wird das so bleiben, vielleicht auch die nächsten zwanzig oder dreißig, beinahe bin ich mir dessen sicher.

Genau gesagt riecht es nach Fisch, aber nicht unangenehm, mehr nach Fischstäbchen oder dem Fett in dem man sie gebraten hat. Ein wenig riecht es auch nach Ananas an manchen Tagen, früher hat Mama dann das Fenster geöffnet, aber nichts half, irgendwann war der Geruch egal und die Fenster zu, bis es wieder Frühjahr wurde und davor die Gänseblümchen wuchsen, die Krokusse und die Märzenbecher. Meine Mutter ist eine rationale Person, sie denkt bevor sie spricht, sie denkt bevor sie fühlt. Das darf nicht negativ verstanden werden, ich meine damit nur, dass sie für alles eine Erklärung hat. Wie für die Gerüche, die daher kommen, dass einfach in den Jahren vor 1996 zuviel von den Speisen in der Küche verzehrt wurden, dass der Geruch sich schon vorher manifestiert hatte und nur nicht auffiel. Würde man endlich mal neu tapezieren, wäre der Spuk vorbei, was heißt Spuk, der Geruch eben, die komische Luft, mit dem Wort Spuk malt man viel zu oft Gespenster an die Wand, und die gehören da sicher nicht auch noch hin, sagt sie dann und lacht. Und ich nicke und manchmal lache ich auch und dann war es das auch wieder mit dem Gespräch über die Küche. Und es ist gut so.

Mein Vater jedenfalls, der aß Fischstäbchen und Ananas ohne Ende. Was aus dem Meer kommt, ist gesund, erklärte er mir und mit Früchten die eine Farbe wie die Sonne hätten, könnte es nicht anders sein. Er arbeitete viel und abends hätte er sich sein Lieblingsessen eben verdient, meinte Mama ohne zu wiederreden. Jeden zweiten Tag kochte sie ihm Fischstäbchen, setzte sich dann neben ihn an den Tisch und hörte zu, was er zu erzählen hatte. So wäre das auch am 17. Februar gewesen, wäre mein Vater pünktlich vor der Tür gestanden und nicht statt ihm der stammelnde Polizist, der etwas von Unfall und Identifizierung redete, der Mama in den Mantel half und so lange bei mir blieb, bis sie aus dem Krankenhaus wiederkam. Er sprach nicht viel, ich erinnere mich nur vage an ihn, wie er in der Küche stand und mich fragte, ob ich Stadt, Land, Fluss spielen wolle.

Er hatte mich das dritte Mal gewinnen lassen, als Mama wiederkam und sich bei ihm bedankte, die Fischstäbchenpackungen aus der Kühltruhe nahm und auf den Müll schmiss und die Ananas aus der Speisekammer ebenso. Sie war ruhig als sie mir erklärte was passiert war, was mich nicht beunruhigte und einschlafen ließ, ohne viel zu weinen.

In den Wochen darauf muss das mit dem Kräutersalz angefangen haben.

Erst schleichend, fast unscheinbar begann ich Essen zu salzen, erst die Suppe, dann die Kartoffeln, dann das Brot und irgendwann auch die Schokolade. Konzentriert starrte ich dabei auf das Salz, wie es aus der Packung auf die Lebensmittel rieselte und manchmal hielt ich meine Hand dazwischen, um ein wenig davon aufzufangen und mit der Zunge darüber zu schlecken. Mutter sagte zu all dem nichts, sie überließ dies Großmutter, die mir nicht selten das Kräutersalz aus der Hand riss und Mutter tadelte, dass sie besser auf mich aufpassen sollte. Aber ihre Tochter hörte nicht auf sie, hörte sie einfach gar nicht, nicht nur im Bezug auf mich, sondern in allen Belangen. Seit Großmutter drei Tage nach dem Begräbnis meines Vaters bei uns eingezogen war, herrschte eisige Stille zwischen ihnen, ich erinnere mich, sie einmal streiten gehört zu haben „Es ist immer noch mein Leben,“ hatte Mutter gefaucht und Großmutter hatte geantwortet: „Aber es ist nicht mehr ganz.“ Woraufhin eine Tür ins Schloss flog und jemand zu weinen begann.

Am nächsten Morgen sprachen sie wieder nicht miteinander und als meine Großmutter mir ein weiteres Mal den Salzstreuer aus der Hand nehmen wollte, riss ihn ihr meine Mutter aus der Hand, streute sich selbst Unmengen davon auf das Brot und biss demonstrativ davon ab, bevor sie aus dem Zimmer ging, Großmutters Sachen packte und vor die Tür stellte. So habe ich meine Mutter nie wieder gesehen und auch Oma blickte sie nur entsetzt an, ohne ein Wort zu sagen und ging dann doch, mit hocherhobenen Kopf aus dem Haus, auf die Straße, zum Bahnhof. Meine Mutter war zu dieser Zeit schon lange in ihrem Zimmer verschwunden und schwieg, schwieg bis der Abend kam und Großmutter sicher nicht wieder, dann gingen wir ins Kino und blickten ungläubig auf die Leinwand, auf die Wirbelstürme, die über Amerika hinwegfegten und wussten, dass niemand auch nur die geringste Ahnung hatte, außer uns.

Ich aß weiter Kräutersalz, auch in der Schule hatte ich jeden Tag meinen eigenen Salzstreuer dabei, um mein Jausenbrot zu verfeinern oder ihn auch nur einfach auf den Tisch zu stellen und anzublicken. Meine Sitznachbarin, ein Mädchen, das ich nie besonders leiden konnte, ignorierte all das vollkommen und ich war ihr sehr dankbar dafür. Die Klassenlehrerin jedoch mißbilligte mein seltsames Verhalten und lud meine Mutter zu einer Sprechstunde ein, zu der meine Mutter wiederum mich mitnahm und wir dann alle drei in diesem engen Zimmer saßen und die Lehrerin viel lächelte und mit den Händen sprach, meine Mutter viel den Kopf schüttelte und kurze Sätze sagte und ich einfach nur dasaß, auf die Wand starrte, aus dem Fenster, hinunter auf die Straße, wo die Schulbusse bereits warteten, um alle anderen Kinder nach Hause zu bringen. Ich bekam das dringende Bedürfnis es ihnen gleichzutun und getraute mich doch nichts zu sagen, spielte mit dem Salzstreuer in meiner Tasche und murmelte dann doch: „Mutter, ich will nach Hause.“ Woraufhin meine Mutter zum ersten Mal nickte, meine Hand nahm, mit der anderen die der Lehrerin schüttelte und mich nach ihr aus dem Gebäude zog.

Sie kochte Spaghetti zuhause und setzte sich am Küchentisch mir gegenüber, als ich zu essen begann. Und während sie mich anblickte sagte sie: „Alles geht vorüber. Auch das Salz, deine Trauer und mein Schmerz.“ Ich reagierte nicht, da ich nicht wusste wie und begann statt dessen an meinen Vater zu denken, der es nie gemocht hatte, wenn ich am Küchentisch laut redete und ich wunderte mich zum ersten Mal, warum ich ihn nie nach einem Grund dafür gefragt hatte, sondern es einfach befolgte, ihn leise ansah und mir Geschichten über das Meer anhörte, die er gerne erzählte und es fiel mir plötzlich wie Schuppen von den Augen, ich wusste plötzlich, was passiert war, ich wusste, was Mutter sagte, ich wusste was all das sollte und auch Mutter erkannte es, nahm mir das Salz aus der Hand und wischte eine einzelne Träne aus ihrem Gesicht und sagte dann mit fester Stimme: „Am Mittelmeer ist es im Moment besonders schön.“

Auf der Fahrt dorthin hörten wir eine Märchenkassette nach der anderen an, als wir alle durchhatten, begannen wir von vorne und summten dabei die Zwischenmelodien mit. Das Wetter vor dem Fenster war schlecht, es nieselte ein wenig, es schien als würde ein starker Wind blasen, aber das interessierte uns nicht, wir hatten ein Ziel vor den Augen und selten war es uns beiden so bewusst gewesen, dass es sich dabei um das selbe handelte.

Angekommen am Meer, in Italien, blieben wir erstmals im Auto sitzen und meine Mutter lächelte, lächelte mich an, strich mir übers Gesicht und sagte: „Mein Mädchen.“ Sie sah unendlich traurig aus in diesem Moment und ich begann zu weinen, statt ihr, schluchzte zum ersten Mal seit dem Tod meines Vaters. Die Tränen kullerten nur so über mein Gesicht und ich fing die eine oder andere mit meiner Zunge auf. Sie schmeckten salzig und ich beruhigte mich, legte den Kopf auf die Schulter meiner Mutter, die den Motor abgestellt hatte und die Sicherheitsgurt löste. „Komm,“ sagte sie, „das wird helfen.“

Wir stiegen aus, öffneten den Kofferraum und nahmen die zwei Kilosäcke Salz heraus, die wir in der Speisekammer gebunkert hatten. Eine jede einen tragend gingen wir den Strand hinunter. Mein Vater hatte immer erklärt, dass das Meer Salz zurückgibt, weil es dankbar ist, dass die Menschen es so lieben. Und genau daran musste ich denken, dachte ich bereits die gesamte Autofahrt, eigentlich sogar schon seit dem Abendessen, den Spaghetti auf meinem Teller und dem Blick meiner Mutter.

Wir gingen also, im Gänsemarsch an der windigen See entlang und wunderten uns ein wenig, dass es so gekommen war, das Leben und der Tod. Das Salz und der Wind. Der Winter und der Frühling und der Sommer und der Herbst. Meine Mutter öffnete schließlich den ersten Sack, schüttete ihn in das Meer und ich tat es ihr wenig später gleich. Und wie wir da standen am Meer, da kam es, dass die Flut langsam zur Ebbe wurde und plötzlich alles gut war.

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