Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben
Aus der ehemaligen jetzt-Community: Du liest einen Nutzertext aus unserem Archiv.

Integration light – Innenansichten einer Blindeneinrichtung

Text: BananenBill
Altkluge Sprüche zieren die Wände des Berufsförderungswerk Würzburg:



Der Autor hat geschlagene drei Jahre in dieser Einrichtung verbracht und möchte allen Interessenten entschieden davon abraten, ihre Zeit hier zu vertrödeln. Er hat mit Teilnehmern gesprochen, hat heimlich Gesprächen gelauscht, hat zugehört, als andere weggehört haben. Hier sein Bericht, der als Weckruf gedacht ist. Ist irgend jemand dort draußen, der ihn hört?



Andere Länder, andere Sitten



Vor einigen Jahrzehnten war es noch üblich, Behinderte in gesonderte Einrichtungen zu stecken. Behindertenwerkstätten, Einrichtungen für geistig Behinderte und ähnliche Anstalten galten als Non-Plus-Ultra der Behindertenfürsorge. Nur wenige Behinderte hatten das Privileg höherer Bildung. In vielen Ländern der Welt hat sich der Fokus seitdem verschoben. Behinderte sollen von Anfang an in die Schule integriert werden. Eine entsprechende UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung ist auch von Deutschland unterschrieben worden. http://www.netzwerk-artikel-3.de/dokum/schattenuebersetzung-endgs.pdf

Der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen Vernor Muñoz kritisierte bei seinem Deutschlandbesuch nicht nur die frühe Aufteilung des deutschen Schulsystems, sondern auch den Umgang mit Behinderten. Aus verschiedenen Gründen wird Behinderten der Zugang zu bestimmten Schultypen verwehrt: http://www.taz.de/1/zukunft/wissen/artikel/1/behinderte-muessen-waehlen-koennen/



Gemeinsam einsam – das BFW als Zwei-Klassen-Gesellschaft



Viele Einrichtungen, die ursprünglich für Blinde gedacht waren, wurden in den letzten Jahrzehnten von Sehbehinderten mit teils erheblichem Sehrest überschwemmt. Weniger als ein Drittel der Rehabilitanten des BFW ist blind,

der Rest sind Sehbehinderte. Im BFW ist es nicht selten,, dass Rehabilitanten mit dem Auto vorfahren. Das zeigt im übrigen die verkehrte Welt der deutschen Integrationspolitik. Der Staat gibt mehrere Tausend Euro im Monat für Leute aus, die ansonsten für wesentlich weniger Geld wohnortnah in Schulen oder Betrieben hätten integriert werden können.



Blinde werden wie Dreck behandelt



Das BFW hat einen echten Hass auf Blinde. Es ist im Grunde genommen eine Zwei-Klassen-Gesellschaft. Am unteren Ende stehen die überwiegend blinden Telefonisten, die faktisch für die Arbeitslosigkeit ausgebildet werden. Am oberen Ende stehen die Informatik-Kaufleute, die aber überwiegend sehen sind. Die Zulassungskriterien für Blinde sind so hoch, dass sie von nicht Geburtsblinden kaum erreicht werden können. Beispielsweise muss man 1000 Silben Blindenschrift in zehn Minuten lesen können. Das schaffen viele Geburtsblinde nicht, andere Blinde nur nach viel Übung.

Die Auszubildenden zum Verwaltungsfachangestellten haben es dabei besonders schwer, da sie auf Material in Punktschrift oft monatelang warten und darum betteln müssen. Doch auch die anderen haben es nicht einfach: Die Ausstattung ist oft veraltet, die Telefonanlagen sind fehleranfällig und oft defekt.

Die überwiegend normal sehenden Lehrkräfte sind weder willig noch sind sie auf die Didaktik für Blinde eingerichtet. Sie haben oft keine Ahnung von der Arbeitsweise von Blinden und unterrichten daher vor allem die Sehbehinderten.



Im Grunde wollen sie uns nicht



Der Geschäftsführer des BFW hat eine persönliche Abneigung gegen Blinde. Er selbst drängt nach und nach auch die letzten blinden Lehrkräfte aus dem BFW. Die Lage der Blinden lässt sich am BFW und vergleichbaren Blindeneinrichtungen ablesen. Obwohl die Zahl der blinden Akademiker und Ausgebildeten ständig steigt, weisen solche Einrichtungen zumeist kaum blinde Angestellte auf.



Wir müssen draußen bleiben



Bis vor einigen Jahren war es noch üblich, dass Blindenhunde gar nicht ins Haus durften. Sie wurden in einem Verschlag gehalten, wo sie heute ihr Geschäft erledigen sollen. Das Hundeklo erfreut sich steigender Beliebtheit bei Ungeziefer und Krankheitskeimen: da es nie gereinigt wird.

Auch die Mobilitätstrainer haben kein Faible für Hunde. Schließlich haben sie nur gelernt, dass Blinde sich nur mit Stock orientieren können. Mobilitätstraining dient dem Blinden dazu, sich in unbekannten Gegenden selbstständig zurecht zu finden.

Auch Mobilitätstraining ist nicht selbstverständlich, da sich das BFW weigert, zusätzliche Trainer einzustellen. Am liebsten wäre es dem BFW, die Blinden würden immer auf dem Gelände bleiben. Wo käme man da hin, wenn man sich frei bewegen könnte?



Der Elitismus des BFW schlägt sich vor allem im Kurs „Integration für Blinde und sehbehinderte“ (IBS) nieder. Seit einiger Zeit gib es das IBS auch für Akademiker. Ein Grund für die Leiterin der Qualifizierung mit den Akademikern anzugeben, die sie in ihre Fänge bekommen hat. Sie verschweigt dabei gerne, dass die Opfer der Integration oftmals ihre Ausbildung im BFW genossen haben und dass sie in den Jahren ihrer Abwesenheit keinen Job gefunden haben. So züchtet das BFW seine eigene Stammkundschaft heran. Die IBS ist der traurige Ausdruck für das Integrationsversagen des BFW. Und der deutschen Gesellschaft.





„Niemand wird aufgeschrieben“ – das BFW als totale Institution



Grünanlagen, weiß getünchte Gebäude, eine hügelige Landschaft, auf den ersten Blick wirkt das BFW wie ein Sanatorium für reichere Senioren. Das Bild bekommt erste Risse, sobald man das Internatsgebäude betritt. Es gibt nur einen Eingang mit einer Pforte, die 24 Stunden am Tag besetzt wird.



Wenn aus Fürsorge Kontrolle wird



Niemand wird aufgeschrieben, heißt es in der Verwaltung. Wozu auch, schließlich hat das Wohngebäude nur einen benutzbaren Eingang. Der Rest sind Notausgänge, die einen Alarm auslösen, sobald sie geöffnet werden. Nach einer Weile kennen die Pförtner natürlich jeden Rehabilitanten. Sie wissen, wer spät abends hereingeschlichen kommt. Sie wissen, wer das Haus nur torkelnd betreten kann. Und sie wissen, wer heimlich andern Orts übernachtet hat.



Im Auge der Kamera



Das gesamte Gelände und die Gebäude sind mit Kameras ausgestattet. Keiner der Rehabilitanten wird darüber informiert, dass seine Bewegungen beobachtet werden können. Die meisten Blinden wissen gar nicht, dass es diese Kameras gibt. Das BFW hat versäumt, die Rehabilitanden darüber zu informieren. Im Grunde genommen ein schwerer Verstoß gegen Datenschutzrichtlinien. Der Rehabilitant erfährt nicht, was mit diesen Aufnahmen passiert, wann er beobachtet wird, wie die Aufnahmen verwendet werden und inwieweit die Kamera in die Privatsphäre der Menschen eindringt.



Niemand hat vor, eine Mauer zu bauen



Alle zwei bis drei Wochen müssen die Rehabilitanden nach Hause fahren. Viele von ihnen verlassen in der Zwischenzeit das Gelände gar nicht. Das Rund-Um-Sorglos-Paket des BFW macht körperliche Bewegung und Mobilität gänzlich überflüssig. Neben den drei Mahlzeiten am Tag gibt es einen Fitnessraum, ein winziges Schwimmbad, einen Frisör, einen kleinen Laden und eine Gaststätte, alles auf dem Gelände. Die Kegelbahn darf natürlich auch nicht fehlen. Die Zimmer haben TV-Kabel.

Das BFW Würzburg liegt eigentlich in der Kleinstadt Veitshöchheim, gute 20 km von Würzburg entfernt. Der Bus hat eher gewöhnungsbedürftige Abfahrtszeiten, benötigt gut zwanzig Minuten in die Stadt und kommt permanent zu spät. Als ob das nicht Isolation genug wäre, liegt auch die Innenstadt von Veitshöchheim gute 20 Gehminuten vom BFW entfernt.

Unsichtbare Mauern funktionieren besser. Die totale Isolation ermöglicht die totale Kontrolle über die Rehabilitanten.



Der Feind guckt mit



Durch die Mischung aus Verwaltung und Wohnbereich unterliegen die Schüler einer ständigen Beobachtung. Im Grunde kann jeder der Feind sein: der Pförtner, die Lehrkräfte, die Verwaltung oder die Putzfrauen. Alle können verdächtiges Verhalten an leitende Stellen weiter geben.



In den 60ern stehen geblieben



Das BFW gibt sich als moderne Einrichtung. Während die Technik zweifellos aktuell ist, trifft das auf die Institution nicht zu. Das BFW selbst ist Sinnbild der gescheiterten Integration Sehgeschädigter in die deutsche Gesellschaft: nur ein Bruchteil der Mitarbeiter im BFW ist selbst sehbehindert.

Die Rehabilitanden haben also kaum positive Vorbilder. Doch das ist nicht das größte Problem. Vielfach sind die Lehrkräfte und die Verwaltung nicht im Umgang mit Sehgeschädigten geschult. Während die Servicekräfte überwiegend freundlich, offen, hilfsbereit und lernfähig sind, sind die Lehrkräfte und die Verwaltung das glatte Gegenteil: Herablassend, ungeduldig, unwissend und unfähig. Verwaltungsakte, die wenige Minuten dauern sollten, werden über Wochen verschleppt. Unterlagen werden verlegt, Aufgaben werden nicht erledigt, Zusagen nicht eingehalten.



Über Tratschtanten und Märchenonkel



Das BFW selbst hat kaum Angestellte mit Sehschädigung. Dennoch erhält es die Illusion aufrecht, Sehbehinderte hätten gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Insbesondere dann, wenn sie eine Ausbildung beim BFW genossen haben.

Um die Jobchancen zu erhöhen, gibt es den Arbeitsmarktservice, dessen Aufgaben in der Vermittlung der Rehabilitanden besteht.

Die Leistungen des Arbeitsmarktservice lassen sich kurz zusammenfassen: Sie tun nichts. Der stellvertretende Abteilungsleiter ist mit allem Möglichen beschäftigt, nur nicht damit, seinen Aufgaben als Arbeitsmarktservice nachzukommen. Eine frisch eingestellte Mitarbeiterin des Arbeitsmarktservice verließ das BFW nach nur zwei Wochen wieder, weil sie die Zustände dort nicht mitansehen konnte.



Schlampig und chronisch unzuverlässig, damit lässt sich die gesamte Verwaltung des BFW umschreiben.



Ausbildungen, die keiner braucht



Der Schandfleck der Blindenausbildung ist heute die Ausbildung zum Telefonisten. Während Jahr für Jahrneue Telefonisten ausgebildet werden, sinkt der Bedarf stetig. Call Center werden von Angelernten bedient, oft ist der Pförtner zugleich die durchstellende Person, der Computer ersetzt den Menschen oder es wird einfach keiner benötigt.

So produziert das BFW Jahr für Jahr ein Dutzend neuer chancenloser Arbeitssuchender. Nur mit viel Glück schaffen einzelne den Sprung in den Job. Dem BFW ist dieser Skandal bewusst, doch anstatt neue –––––Ausbildungsgänge anzubieten, führt man die Arbeitsagenturen als Kostenträger an der Nase herum. Aus den angeblich 90 Prozent vermittelten Personen werden auf einen Schlag 95 Prozent nicht Vermittelte.



Der arglose Besucher schließt von der Offenheit des Hauses auf die Offenheit der Kommunikation. Doch wie im Buch „984“ verschwindet alles Unliebsame aus den Akten. Sexuelle Belästigung von Rehabilitanten durch Mitarbeiter, die Lehrkraft, die bereits am Morgen volltrunken ist, oder die Bewerbungstrainerin, die keine Lust hat, den Rehabilitanden zu zeigen, wie man Bewerbungen schreibt, alles wird unter den Teppich gekehrt, um den schönen Scheint zu wahren.



Quotatis mutandis



Die mickrige Vermittlungsquote wird mehr oder weniger ungeschickt kaschiert. So gelten Personen als erfolgreich vermittelt, wenn sie in ein Praktikum geschickt werden können, was bekanntlich immer zu einem Job führen muss. Als erfolgreich vermittelt gelten auch Personen, die fünf Jahre nach ihrer Ausbildung einen Job gefunden haben. Doch es ist extrem unwahrscheinlich, dass jemand nach so langer Zeit einen Job findet, ohne eine Zusatzausbildung gemacht zu haben. Noch unwahrscheinlicher ist es, dass diese Person sich auch noch beim BFW melden wird. Anzunehmen ist eher, dass die Personen, die keinen Job gefunden haben, sich auch nicht beim BFW melden werden, wodurch die Quoten weiter kaschiert werden können. Wenn das BFW auch sonst nicht allzu viel beherrscht, die Kunst, Statistiken zu kaschieren, kennt hier keine Grenzen.



Nachschrift



Wie in allen Einrichtungen gibt es auch im BFW Würzburg eine ganze Reihe engagierter Leute. Ebenso gibt es eine Reihe von Leuten, die im Grunde genommen nichts mit Behinderten zu tun haben möchten, aber irgendwie in diese Einrichtung gerutscht sind. Doch so, wie die Menschen die Einrichtungen formen, formen die Institutionen die Menschen. Diese Einrichtungen sind sicher dazu geeignet, die elementaren Grundkenntnisse für Blinde und Sehgeschädigte zu vermitteln: Punktschrift, lebenspraktische Fertigkeiten, Mobilität und vieles mehr. Diese Einrichtungen sind aber in keinster Weise dazu geeignet, Blinde uns Sehgeschädigte in die Gesellschaft zu integrieren. Im Gegenteil: sie fördern die Abschottung. Sie sind ein Ghetto und eine rosa Seifenblase. Ein Neugeborenes, das soeben dem Mutterleib entschlüpft ist, ist besser auf die Welt da draußen vorbereitet als ein Blinder, der im BFW geschult wurde.

Ich plädiere für eine möglichst frühe Integration Behinderter in die Gesellschaft. Wenn alle Schulen Behinderte aufnehmen, wenn alle Ausbildungsbetriebe Behinderte aufnehmen, wenn alle Unternehmen Behinderte einstellen, dann werden wir endlich das bekommen, worum wir immer gebeten haben: Wir werden wie normale Menschen behandelt. Ein guter Tag wird der Tag sein, an dem alle Blindeneinrichtungen, „Sonderschulen“ und Hauptschulen ihre Pforten für immer schließen. Ein Tag des Jubels wird anbrechen, wenn wir aufhören, Menschen nach ihrer Schulbildung zu beurteilen.

Mehr lesen — Aktuelles aus der jetzt-Redaktion: