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„Meine größte Angst ist, dass die Leute jetzt ihr eigenständiges Denken aufgeben“

Illustration Jessy Asmus

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Charlotte d’Argent, 29, aus Paris, arbeitet für eine NGO, die sich in an den Stadträndern der Metropole um Migranten kümmert:

"Ich persönlich habe keine Angst vor Anschlägen, wenn ich auf Konzerte gehe, in Restaurants, in Menschenmengen. Aber meine Kollegin hat vorhin erzählt, sie habe heute morgen einen Rucksack in der U-Bahn gesehen, der niemandem gehörte, oder den halt jemand vergessen hat. Sie ist nicht eingestiegen.

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Charlotte D'Argent, 29, aus Paris.

Foto: Screenshot Facebook.

Meine größte Angst besteht darin, dass die Leute jetzt ihr eigenständiges Denken aufgeben, und sagen: Jetzt geht es gegen die Leute, oder die, oder die. Die Medien verstärken dieses Schwarz-Weiß-Denken, indem sie sich jetzt auf die Emotionen, die Trauer, die Wut konzentrieren, aber nicht auf das politische Problem. Deswegen gibt es keine konstruktive Debatte.

Der Anschlag wird in Frankreich den politischen Konservatismus und den Ruf nach Sicherheit stärken. Hier gewinnen Politiker ihre Wahlen mit der Frage nach Sicherheit – so war das schon bei Chirac und Sarkozy. Die Kampagnen richten sich dabei oft gegen Immigranten, die es nicht in die bürgerliche Mitte geschafft haben, die in den Banlieues leben, in Parallelwelten.

Ganz speziell die zweite Generation von Migranten, zum Beispiel aus Tunesien, wird im höchsten Maße stigmatisiert. Sie haben es schwerer, auf dem Arbeitsmarkt und bei der Wohnungssuche. Wir nennen sie nicht mal Franzosen, auch wenn sie hier geboren wurden. Sondern Araber. Es ist kein Zufall, dass so viele Anschläge in Frankreich passieren. Wir haben keinen richtigen Plan, um andere Leute zu integrieren, ihnen Möglichkeiten zur Entwicklung zu bieten, in sie zu investieren. Diese Menschen haben oft wenig zu verlieren – und sind obendrein frustriert. Und beeinflussbar.

Wenn du versuchst, zu erklären, was möglicherweise in den Biographien dieser Leute passiert ist, heißt es sehr schnell: Das ist keine Rechtfertigung. Und die Debatte wird im Keim erstickt. Da gibt es viel Ignoranz in der französischen Bevölkerung."

Nathalie Müller, 27, arbeitet als Content Editor und im Customer Service für einen Reiseveranstalter in Aix-en-Provence:

"Als letzten November in Paris die Anschläge waren, hat man danach gemerkt, dass plötzlich Angst da war. Aber viele Franzosen und vor allem junge Menschen haben sich schon da gegenseitig dazu ermutigt, sich nicht unterkriegen zu lassen. Sie fanden, es sei wichtig, trotzdem rauszugehen und zu feiern. Irgendwann ging dann auch alles wieder in Normalität über, auch, wenn irgendwo im Hinterkopf der Gedanke an den Terror dageblieben ist.

Und dann kamen die Fußball-Europameisterschaft. Eine Zeit, in der hier wirklich euphorische Stimmung herrschte. Doch dieser Anschlag jetzt in Nizza – das trifft die Nation richtig hart. Vor allem, weil er am Nationalfeiertag stattfand, direkt nach der EM . Die Stimmung heute ist sehr bedrückend.

Abends, wenn man weggeht, spricht man natürlich über die Veränderungen im Land. Über den Ausnahmezustand, der schon seit Monaten über Frankreich verhängt ist. Das hat man im Hinterkopf, wenn man unterwegs ist. Man merkt es auf jeden Fall auf den Straßen, an der Polizei, auf die man vermehrt trifft. Mich selbst stört es nicht, denn irgendwo ist das Sicherheitsgefühl noch da. Aber zugleich ist es sehr unangenehm, weil man weiß, dass der Terror immer um einen herum ist und überall etwas passieren kann. Freunde von mir wollten sich zum Beispiel das EM-Finale nicht in den Fan Zones anschauen. In großen Ansammlungen fühlt man sich nicht wohl. Auch wenn das Vertrauen in die Polizei und den Staat nicht weg ist, ist da trotzdem eine gewisse, nachvollziehbare Verunsicherung.

Trotz der Anschläge bleibt die Toleranz in Frankreich unverändert. Auch, wenn man manchmal schlimme Sachen hört und alles in einen Topf geworfen wird, der Islam, der Terrorismus – vor allem Studenten und junge Franzosen sind immer noch sehr offen eingestellt gegenüber anderen Menschen, so wie vor den Anschlägen.

Wir versuchen hier alle, unser Leben weiterzuführen, uns die Angst nicht anmerken zu lassen. Wir gehen trotzdem raus und haben Spaß. Man kann ja nicht immer in Angst leben. Wir lassen uns von dem Gedanken an die mögliche Terrorgefahr nicht unterkriegen. Nur dann, wenn wie jetzt ein neuer Anschlag kommt, dann trifft es einen wieder.

Audrey Meyer, 30, macht die Öffentlichkeitsarbeit für das Théâtre Belleville in Paris:

 

"Ich dachte bei den Anschlägen von Nizza als erstes: 'Nicht schon wieder.' Es hat mich nicht besonders überrascht, aber geschockt war ich trotzdem. Nach den Anschlägen vom November war bei mir schon lange wieder der Alltag eingekehrt und jetzt kamen die Gefühle von damals ein bisschen zurück. Allerdings fühlt es sich eher so an, als richte dieser Anschlag sich gegen die Nation, weil er am Nationalfeiertag verübt wurde – der Anschlag im November hat sich für mich "persönlicher" angefühlt.

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Audrey Meyer arbeitet in Paris.

Foto: privat

Ich lebe in Paris und das Theater, in dem ich arbeite, liegt im 11. Arrondissement, einige der Anschlagsorte waren nur zwei Minuten entfernt. Ich gehe dort aus, meine Freunde gehen dort aus, und der Terror hat sich konkret gegen junge Leute und ihren Lebensstil gerichtet.

 

Ich habe im November zum Glück niemand Nahestehendes verloren, aber es waren so viele Menschen im Bataclan, dass in den Tagen darauf jeder jeden kontaktiert und nachgefragt hat, ob alles in Ordnung ist.  Am Sonntag nach den Anschlägen war es sonnig, meine Freunde und ich sind auch direkt wieder ausgegangen wie vorher. Es fühlte sich ein bisschen komisch an, aber wir dachten auch: Wir müssen das jetzt machen, damit die Terroristen nicht erreichen, was sie wollen.

 

Ich komme eigentlich aus der Nähe von Straßburg, viele Freunde und meine Familie leben noch dort. Nach den Anschlägen wollte meine Mutter, dass ich aus Paris wegziehe, es sei zu gefährlich. Aber ich habe gedacht: Es kann doch überall passieren. Und jetzt sehen wir ja, dass das stimmt.

 

Heute haben wir erfahren, dass der Ausnahmezustand noch mal um drei Monate verlängert wird.  Im Alltag merkt man die Veränderungen seit November an den Sicherheitskontrollen, zum Beispiel in großen Einkaufszentren, oder daran, dass regelmäßig schwer bewaffnete Soldaten an unserem Theater patrouillieren. Wir haben uns inzwischen daran gewöhnt. Ich glaube auch nicht, dass das alles besonders effektiv ist, es entsteht dadurch eher so eine Art Fake-Sicherheitsgefühl. Ich meine, du musst zwar deine Tasche öffnen, wenn du ins Einkaufszentrum gehst, aber wenn dann jemand mit einer Kalaschnikow kommt…

 

Und in der Métro gibt es zum Beispiel gar keine Kontrollen. Da habe ich manchmal ein ungutes Gefühl. Nicht wegen einer bestimmten Situation, sondern eher in ganz normalen Momenten, wenn es in der U-Bahn sehr voll ist. Dann stelle ich mir vor, wie leicht jetzt jemand mit einer Bombe unter der Jacke einsteigen könnte. Aber ich denke mir eben auch, dass ich nicht in einem Überwachungs- oder Militärstaat leben will. Ich will leben wie vorher, ausgehen wie vorher, einfach mein Ding machen.

 

Manchmal denke ich an die Menschen im Irak und im Nahen Osten, die seit Jahren mit dem Terror leben müssen. Als vor kurzem der Anschlag in Bagdad war, hat kaum jemand darüber gesprochen, auch die Medien nicht – da ging es bloß um die Europameisterschaft. Terror in Europa und Terror anderswo wird immer noch unterschiedlich gewertet. Aber ich glaube auch, dass wir uns langsam an Terroranschläge hier gewöhnen.

 

Und ich denke, es wird noch schlimmer werden, auch wenn das fatalistisch klingt. Klar, die Polizei und die Geheimdienste machen ihren Job und verhindern auch Anschläge – aber was will man unternehmen gegen Menschen, die bereit sind zu sterben? Am meisten Sorgen macht mir das alles im Hinblick auf die Wahlen im kommenden Jahr: Der "Front National" nutzt die Angst der Bevölkerung, um die Menschen gegeneinander aufzubringen."

 

Jean-Paul Marie, 36, arbeitet als Industriemechaniker in Antony:

 

"Ich fühle mich in Frankreich weiterhin sicher. Bei den Anschlägen vom 11. September hatte ich mehr Angst. Denn jetzt sind alle dabei, etwas gegen den Terror zu tun. Das war 2001 noch nicht der Fall. In meiner Heimatstadt sind Militärkräfte stationiert. Selbiges gilt für Paris.

 

Ich habe nicht den Eindruck, dass all die Anschläge in Frankreich irgendetwas verändert haben. Okay, es gibt Proteste gegen den Terror, es gibt Danksagungen an die Polizei für ihre Arbeit und ihren Einsatz, es gibt Solidaritätsbekundungen mit den Opfern und deren Familien. Aber das ist keine bleibende Veränderung. Irgendwann kehrt der Alltag wieder ein, die Leute machen weiter und widmen sich wieder ihren persönlichen Problemen – so, wie es nach den anderen Terrorakten auch gewesen ist.

 

Ich denke, dass die Menschen, die bereits in arabischen Gemeinden gelebt haben, immer noch tolerant sind. Bei anderen Leuten hingegen steigt der Rassismus, nicht nur gegen arabische Menschen, sondern gegen all die von Ausländern bewohnten Stadtteile. Ich habe dennoch den Eindruck, dass die Araber am meisten diskriminiert werden.

 

Für mich fühlt sich der Ausnahmezustand eher so an, als würde man damit alle politischen Entscheidungen decken wollen. Es war anfangs ein guter Gedanke – aber es läuft vieles schief. Vielleicht macht die Politik ja wirklich mehr, um solche Anschläge vorzubeugen. Davon liest man aber nichts. Mein Freundeskreis ist geteilter Meinung, was den Ausnahmezustand betrifft. Einige finden ihn gut, weil seitdem etwa ein paar Marihuana-Dealer verhaftet worden sind. Aber Terroristen? Die werden nicht geschnappt.

 

Die Menschen erwarten, dass die Polizei mithilfe der Ausnahmezustandsregelungen die Straßen von Terror und Gefahr befreien. Der Preis, den wir dafür zahlen müssen, ist aber die Freiheit. Und letztendlich verändert die Regierung nichts. Es ist alles nur leeres Gerede, denn die Politiker denken bloß an die anstehenden Wahlen nächstes Jahr.

 

Das Leben hier geht einfach weiter – trotz der Attentate. Wir können nicht einfach aufhören zu leben, zu arbeiten, nur wegen dieser Bedrohung. Es kann überhaupt jederzeit passieren, also ist es besser, weiterzumachen wie bisher – finde ich. Das impliziert auch die Botschaft: "Ihr könnt uns töten, uns terrorisieren. Aber wir laufen nicht weg. Wir sind immer noch da."

 

 

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