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„Es geht uns zu gut"

Illustration: Caro Mantke

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Stephan Lessenich (Jahrgang 1965) ist Direktor des Instituts für Soziologie an der LMU München. Sein Buch „Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis“ (Hanser) erklärt die Auswirkungen unseres Konsums.

jetzt: Herr Professor, wir sitzen hier, satt und frei, vor uns Wasser und eine Schale mit „Hanutas“. Uns geht es blendend, oder?

Stephan Lessenich: Es geht uns zu gut. Wir produzieren und konsumieren Dinge, die kein Schwein braucht. Nehmen Sie Kaffeekapseln. Die kannte bis vor zehn Jahren keiner. Es wusste niemand, dass er sie braucht. Jetzt verkauft allein Nestlé davon rund drei Milliarden im Jahr. Purer Luxus. Auch wenn wir zwei besonders privi­legiert sind und viele Menschen in Deutschland nicht im Überfluss leben: Uns als Gesellschaft geht es zu gut.

Was ist daran falsch?

Die Kaffeekapseln oder besser der Abbau von Bauxit, der für das Aluminium benötigt wird, zerstört zum Beispiel in Brasilien die Lebensgrundlage von Millionen Menschen. Unser Kaffeeglück ist deren Unglück. Sie merken: Wir leben nicht über unsere Verhältnisse. Sondern über die von anderen.

Auf wessen Kosten genau?

Man kann die Welt einteilen in den ­Globalen Norden und den Globalen Süden. Es geht um die frühindustrialisierten Länder in Europa, um die USA, Australien, Japan. Und dann die Zweite und Dritte Welt. Manche Länder steigen auf, zum Beispiel China. Die meisten bleiben arm. 

Was machen wir anders?

Es heißt oft, wir seien erfinderischer und fleißiger. Aber unsere Innovation und Produktivität beruhen auf Voraussetzungen, die ungleich sind. Rohstoffe und billige Arbeit kommen nicht von uns. Die nehmen wir von den anderen Ländern. Zu denken, unser Vorsprung entstünde nur durch unserer eigener Hände Arbeit, ist falsch.

Im globalen Wettrennen haben wir also ein Auto, wenn andere noch Fahrrad fahren, und schon eine Rakete, wenn die das Auto bekommen?

Das klingt so gemütlich. Wir haben das Auto nur bekommen, weil wir andere gezwungen haben, zu Fuß zu gehen. Und die Rakete konnten wir nur bauen, weil wir anderen nur das Fahrrad erlaubten. Und zwar mit blutiger Gewalt.

Was kann ich als Einzelner dafür?

Sie sind Teil dieser Maschinerie. Wir alle arbeiten heute mit an der massiven Produktion von Emissionen bei massivem Verbrauch von Energie. Wer mehr hat, konsumiert und verursacht mehr. 

Aber in die Maschinerie wurde ich hineingeboren.

Trotzdem: Sobald wir eine Einsicht haben in diese Zusammenhänge, ist es doch komisch, dass wir immer weitermachen. 

 
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Stephan Lessenich ist Professor für Soziologie

Foto: LMU München

Wissen denn alle Menschen, dass wir auf Kosten anderer leben?

Ich glaube schon. Das Wissen um extreme Ungleichheiten – dass andere kein Trinkwasser haben, während wir unseren nächsten Urlaub planen –, das haben alle. Dass diese Schieflage nicht mit rechten Dingen zugehen kann, wissen sicher 90 Prozent. Den direkten Zusammenhang – dass es uns gut geht, weil es anderen schlecht geht – würden viele ablehnen. Zumindest bei einer bewussten Befragung. Aber instinktiv ist auch das vielen klar.

 

Und wir verdrängen es?

Hier greifen Rationalisierungsstrate­gien. Wir schieben die Schuld überallhin, auf die Politik, „das System“, zur Not aufs Wetter. Denn eigentlich ist es unerträglich, dass Milliarden andere für uns leiden. Man müsste ja mindestens daraus ableiten: Ich fliege nie wieder von München nach Köln. 

 

Genau das habe ich gestern getan.

Und wozu? Um drei Stunden zu „sparen“? Was machen Sie in der Zeit? Und wie sind die Mobilitätsbedingungen von Milliarden von Menschen in Indien? Sehr viele Menschen sterben dort bei Zugfahrten, weil die Züge so überfüllt sind. Das wird Ihnen bei der Deutschen Bahn nicht passieren. Aber statt uns eine Bahnfahrt zuzumuten, sagen wir: Der Flieger fliegt ja sowieso. Niemand ändert sein Verhalten, weil alle anderen es ja auch nicht tun. Deshalb müsste der Staat das eigentlich verbieten oder zumindest hart besteuern.

 

So einen Eingriff empfänden viele Bürger als extreme Beschränkung ihrer Freiheit.

Wie beschränkt hingegen die Freiheit von anderen ist, weil wir sie uns ­nehmen, daran denkt keiner. Es ist schizophren: Obwohl wir ein großes Umweltbewusstsein haben, geht unser Verbrauch weiter steil nach oben. Warum, wofür? Weil es geht. Also muss man es Menschen möglichst leicht machen, sich anders zu ­verhalten. Der Staat reguliert so viel, der könnte auch sinnlose Flüge regulieren. Aber wir nehmen lieber eine „soziale Schließung“ vor. Wir bestimmen, wer privilegiert sein soll. Nämlich wir.

 

Und keiner kann uns aufhalten.

Ich glaube, dass sich auf Dauer immer weniger der Nichtprivilegierten damit abfinden werden. Die andauernden ­Migrationsbewegungen zeigen uns ja: Wenn Menschen anderswo viel schlechtere Lebenschancen haben, gehen sie weg. Womöglich zu uns. Da können wir uns warm anziehen, wenn die – überspitzt gesagt – plötzlich am Hauptbahnhof stehen und das gute Leben für sich einfordern. Die sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge sind ja nur Menschen, die genug von der schreienden Ungleichheit haben. 

Als Zyniker würde ich sagen: Funktioniert doch: Wenn der Druck zu hoch ist, laufen die Leute los, und wir kümmern uns.

In der Tat, das System reguliert sich. Auf Kosten von Menschenleben. Die sogenannte Flüchtlingskrise haben wir auch „überstanden“, die Zahlen gehen zurück. Die Toten bleiben im Mittelmeer. Soziale und vor allem ökologische Kosten können wir nicht unendlich an andere abgeben.

 

Tun wir aber seit Tausenden von Jahren. Was ist heute anders?

Erstens läuft diese Welt heiß. Die Erd­erwärmung muss gestoppt werden. Zweitens haben wir uns in vielen west­lichen Gesellschaften die Gewalt abgewöhnt. Wir akzeptieren brutale Szenen nicht mehr. Wenn es hier alltägliche ­Gewalt gäbe, würden wir dagegen aufbegehren. Und durch die Migrations­bewegungen können wir die Folgen der Externalisierung irgendwann nur noch mit Gewalt von uns fernhalten.

 

Indem wir unsere Grenzen schließen?

Und sie mit Schießbefehlen verteidigen. Das würde hier zum Glück eine Mehrheit der Menschen nicht mehr aushalten. Angela Merkel hat 2015 die Grenzen vor allem deshalb offen gelassen, weil brutale Bilder an einer deutschen Grenze ihr mehr geschadet hätten als aller Widerstand gegen die Flüchtlinge. Das ist ein echter zivilisatorischer Schritt.

 

Was kann ich jetzt persönlich tun?

Statt Kaffeekapseln gibt es schon lange Fair-Trade-Kaffee. Der macht etwa drei Prozent des Marktes aus. Ethischer Konsum ist noch viel zu wenig verbreitet. Aber er würde auch nicht entscheidend viel ändern. Wir bräuchten ganz andere Konsumstrukturen hier, und andere Wirtschaftsstrukturen in Südamerika. Wir müssten dafür viel weniger Kaffee und Saft trinken, auch weniger Fleisch essen. Auf vieles müssten wir in der Masse verzichten, um anderen Gesellschaften eine Entwicklung zu ermög­ lichen. Aber dieses „Immer weiter so“ ist ja auch Ausdruck einer Machtposition. Es ist schwer, die zurückzunehmen. 

 

Was machen Sie eigentlich für eine bes­sere Welt?

Als Erstes schreibe ich Bücher (lacht). Nein, im Ernst: Es gibt für jeden Ver­haltensänderungen, die er ohne Einschränkung seiner Lebensqualität anstreben könnte. Bei mir ist es die Mobilität: Ich besitze kein Auto. Ich ­fliege nie innerhalb von Europa. Trotzdem lebe ich nicht im Mittelalter, ­sondern eben eher so um 1970. Und das ist völlig okay.             

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