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Was mir das Herz bricht: Außenseiter-Kinder

Illustration: Katharina Bitzl

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Ihre Steppjacken sind bis obenhin zugeknöpft, manchmal baumelt ihnen der Busausweis in einer Brusttasche um den Hals und zwei sorgfältig geflochtene Zöpfe hängen vom Kopf auf die Schultern. Die Hornbrillen mit extra dicken Gläsern schreien mir das Wort „bieder“ entgegen. 

Man denkt, solche Kinder gäbe es nur in Comicserien. Aber manchmal sieht man sie wirklich. Zumindest tragen sie eines dieser Accessoires an sich, das mein Hirn dazu veranlasst, die anderen einfach hinzuzufügen. Und dann dauert es nicht lange, bis es automatisch die Schublade mit dem Loser-Stempel öffnet. Und das bricht mir das Herz.

In der U-Bahn gehen sie neben den überschminkten Mädchen mit Air Max und bauchfreiem Neckholder-Top genauso unter wie neben ihren männlichen Altersgenossen, die mit Adidas-Hoodie und iPhone 8 lässig in der Ecke des Abteils lehnen. Nur wer genau hinsieht, entdeckt die kleine graue Maus. Vor meinem inneren Auge sehe ich, wie auf dem Pausenhof über sie geredet wird, die anderen ihr einen „Kick me“-Zettel an den Rücken heften oder sich über ihre atmungsaktiven Schuhe lustig machen.

Sicher liegt in ihrer Schultasche all das, was die „coolen Kids“ als völlig überflüssig empfinden. Sie hat einen Zirkel (sogar noch in der Originalverpackung), eine Flasche lauwarmen Früchtetee (Saft würde die Zähne schädigen), eine Packung Pflaster (Vorsicht ist besser als Nachsicht) und natürlich eine große Brotzeitbox voller Körnerbrotschnittchen mit Frischkäse-Kresse-Aufstrich und liebevoll aufgeschnittenen Apfelspalten (gesunde Ernährung ist das A und O). Ihr Mund steht immer ein kleines Stück offen, denn anscheinend lässt ihre glitzernde Zahnspange nicht zu, dass sich Lippe auf Lippe legt.

Manchmal wird das Herzensbrecher-Potenzial noch zusätzlich verstärkt. Durch etwas in ihrem Blick, der eine beeindruckende und irgendwie deplatziert und deshalb verstörend wirkende Selbstsicherheit ausstrahlt. Dieser Blick sagt: Sie selbst ahnen noch gar nicht, was los ist. Sie sind noch zu jung, zu unschuldig, um die Welt des Kapitalismus in all ihrer Brutalität zu erkennen oder gar für eine Bedrohung zu halten. Sie wissen noch nicht, dass das Leben oft ein gemeiner Kampf ist. Um Aufmerksamkeit. Ums Aussehen. Ums Dazugehören. Ein Kampf also, aus dem sie offensichtlich nicht als der große Sieger hervorgehen werden.

In diesem Moment wird einem dann bewusst, wie verdammt ungerecht das ist. Und dass man in einem Dilemma steckt. Denn auf der einen Seite freut es mich natürlich, dass die Eltern dieser Kinder anscheinend sehr fürsorglich sind und die Kinder deshalb eine Art Reinkarnation der Unschuld. Andererseits habe ich das Gefühl, dass der Schock für sie größer sein wird, je später sie erkennen, wie die anderen Jugendlichen wirklich ticken und wie gemein das Leben sein kann. Denn so herzzerreißend das Video zu „Teenage Dirtbag“ aus dem Jahr 2000 auch war – wenn wir ehrlich sind, müssen wir gestehen, dass das mit der Realität eher wenig zu tun hat. Und dass im Zweifelsfall cool zu sein schon sehr hilft im Leben.

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