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Die Madonna des Herrn Prou

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1991 ist die deutsche Wiedervereinigung erst ein Jahr alt und Leipzig noch grau und verfallen. Graffiti und Hip-Hop sind in der Stadt durch die lange Abschottung vom Westen bislang weitgehend unbekannte Phänomene. Auch an den Wänden der Universität ist auf einmal viel Platz, nachdem die Konterfeis von Honecker und Co abgehängt wurden. Aus Neugier auf neue kulturelle Impulse und wohl auch mit dem Ziel, neuen Wandschmuck zu gewinnen, lädt die Hochschule unter dem Titel „Galerie Ephemere“ französische Künstler zu einem Treffen mit Leipzigern ein. Es geht um Pochoirs, auf englisch auch Stencils genannt, also Graffiti, die mit Hilfe von Schablonen gesprüht werden. Gast ist unter anderem ein gewisser Blek le Rat, der mit bürgerlichem Namen Xavier Prou heißt und Anfang der 80er-Jahre zum ersten Mal Schablonenbilder an Pariser Wände gebracht hat. Damit gilt Prou als Erfinder der Stencils im Kontext von Street Art. 

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

  Maxi Kretzschmar ist im Sommer 1991 sieben Jahre alt und geht in eine Grundschule in der Nähe des Südplatzes. Auf dem Weg zum Unterricht begegnet sie täglich an einer Hauswand dem gesprühten Bild einer zarten, barfüßigen Frauengestalt – im wallenden schwarzen Gewand steht die Mutter dort, ein nacktes Kind in den Armen. Das Stencil an der Hauswand ist dem Gemälde Madonna der Pilger des italienischen Barock-Malers Caravaggio nachempfunden. Der Franzose Blek le Rat hat es dort hinterlassen und mit einem Schriftzug der Frau gewidmet, in die er sich bei seinem Leipzig-Besuch verliebt hat: „Pour Sybille“. Das weiß die kleine Maxi damals nicht, genauso wenig ahnt sie, dass das Bild an der Hauswand später einmal ein kleines Politikum werden wird. Einige Zeit später verlässt der letzte Bewohner den unsanierten Altbau. Dessen Fassade verwandelt es sich daraufhin in eine wilde Plakatfläche. Die Madonna verschwindet hinter Leim und Papier und gerät in Vergessenheit.

21 Jahre später, im Jahr 2012, genießt Graffiti einen zweifelhaften Ruf in Leipzig. Die Stadt ist Schauplatz eines ausufernden Wettbewerbs zweier Sprayer-Crews um das größte „Bombing“ in der Innenstadt. Die eine Gruppe hat ihr Namenskürzel über fünf Stockwerke auf die Fassade des leer stehenden Ringmessehauses in der Nähe des Hauptbahnhofs gesprüht. Die andere Gruppe hat mit einem noch größeren Schriftzug am ebenfalls leer stehenden Robotron-Schulungszentrum geantwortet, wenige Häuser weiter. Polizei und Stadt lassen kaum einen Zweifel daran, dass sie die Taten für kriminell halten. Jüngst haben sie Hausbesitzer zu einem Anti-Graffiti-Gipfel ins Rathaus gebeten und dort die Eigentümer aufgefordert, mehr Taten zur Anzeige zu bringen, um Sprüher künftig besser verfolgen und bestrafen zu können.

Doch nur ein kleines Stück von der Innenstadt entfernt, setzt sich bei städtischen Beamten eines Tages die komplett entgegengesetzte Sicht auf ein ganz bestimmtes Graffiti durch. Dort, im Leipziger Süden, hat die mittlerweile 28 Jahre alte Maxi Kretzschmar im Januar an einer Hausfassade ein altes Bild aus ihrer Kindheit wieder entdeckt. Hinter herunter hängenden Plakaten ist plötzlich die Madonna mit Kind samt Widmung zum Vorschein gekommen. Maxi, inzwischen als Organisatorin des Urban-Art Festivals Industriebrachenumgestaltung (IBUg) selbst tief in der Graffiti-Szene verankert, erkennt den Schöpfer des Bildes. Es ist der Franzose Xavier Prou alias Blek le Rat, der mittlerweile als Übervater der Street-Art berühmt ist. Zunächst hat sie Hemmungen den Künstler anzuschreiben. Sie möchte nicht als nerviger Fan erscheinen.

Doch nachdem sie sich ein Herz gefasst hat, ist Prou von der Entdeckung selbst sofort vollkommen begeistert. Denn genau diese Madonna hat eine enorme persönliche Bedeutung für ihn. „Damals, als mich die Universität nach Leipzig eingeladen hatte, kümmerte sich Sybille um mich, übersetzte für mich und organisierte das Treffen. Ich habe mich auf den ersten Blick in sie verliebt. Als ich eines Nachts los zog, um Bilder in der Stadt zu sprühen, hinterließ ich bei einem die Widmung ’pour Sybille’ um ihr zu zeigen, was ich für sie empfand“, erzählt er heute noch mal die Liebesgeschichte seines Lebens.

Die Gefühle beruhten auf Gegenseitigkeit, doch ihre Schüchternheit stand den beiden zunächst im Weg. Erst als Freunde Sybille von dem Bild erzählten und sie davor stand, ging sie in die Offensive. „Ich habe sofort verstanden, was es bedeutete. Da habe ich in Paris angerufen und bin hingefahren. Seitdem sind Xavier und ich unzertrennlich“, sagt sie, die heute mit Nachnamen ebenfalls Prou heißt. Denn ein Jahr später heiratete das Paar, das heute einen 19-jährigen Sohn hat.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

„Als ich die Geschichte gehört habe, wusste ich: Das ist eine ganz große Nummer“, erzählt Maxi stolz. Für sie ist die Mutter mit dem Kind noch aus einem anderen Grund bedeutend. Die meisten Häuser in der Gegend sind inzwischen saniert und die Graffiti aus den 90er-Jahren verschwunden. „Die Madonna ist das letzte erhaltene Stencil aus der Nachwendezeit“, sagt sie und fügt mit Blick auf die gegenwärtigen Umbrüche in der arabischen Welt hinzu: „Es war schon immer so: Graffiti ist bei jeder Revolution ganz vorne mit dabei.“

 

Dieses Argument hat auch die Denkmalschützer überzeugt. „Es ist ein authentisches Zeugnis seiner Zeit, hat eine hohe künstlerische Qualität“, sagt die städtische Denkmalpflegerin Annekatrin Merrem und fügt hinzu: „Außerdem hat es Seltenheitswert.“ Denn laut Xavier Prou ist die Leipziger Madonna sein ältestes Graffiti, das noch erhalten ist. Also bat die Leipziger Denkmalbehörde das Landesamt für Denkmalpflege in Dresden um die Prüfung des Falles. Dieses bestätigte daraufhin die Denkmaleigenschaft der Madonna und stellte das Bild damit unter Schutz. Damit lösten die Beamten eine Diskussion aus.

 

Denn nun melden sich Stimmen in der Stadt, die sich verwundert darüber ärgern, dass ein ungenehmigt angebrachtes Graffiti auf einmal geschützt wird. Denkmalpflegerin Merrem versucht, zu beruhigen. „Es gibt einen deutlichen Unterschied zwischen der Madonna und zerstörerischen Werken ohne ästhetischen Wert“, sagt sie und meint damit auch den Graffiti-Wettkampf in der Innenstadt.

 

Wichtig ist für Merrem in dieser Situation deshalb, dass der Hauseigentümer bei der Erhaltung des Bildes mit von der Partie ist. Der heißt Horst Langner und man könnte sagen, dass er zur Madonna kam, wie die Jungfrau zum Kind. Denn als der Immobilienunternehmer aus dem oberbayrischen Mühldorf im Herbst 2010 das 144 Jahre alte Wohnhaus kaufte, ahnte er dank der Plakatwand nichts von dem Graffiti. „Ich interessiere mich zwar für Kunst, aber bis vor kurzem habe von dem Künstler noch nie gehört“, sagt Lagner in bayrischem Akzent. Das hat sich in den vergangenen Monaten gründlich geändert.

 

Im Augenblick wird das Haus, in dem Eigentumswohnungen entstehen sollen, saniert. Auf die überraschende Entdeckung der Madonna hat Langner recht gelassen reagiert. „Die Geschichte des Bildes ist schon toll, und so etwas gehört natürlich auch zu Leipzig dazu.“ Bis die Bauarbeiten am Haus abgeschlossen sind, ist das Stencil zunächst einmal unter einem Holzdeckel verschwunden. Es soll nicht durch die Sanierung oder Neugierige beschädigt werden. Deswegen bleibt auch die genaue Adresse vorerst geheim. Nur die Frage, wie der Schutz in Zukunft organisiert werden soll, ist bislang noch nicht abschließend geklärt.

 

„Man muss dafür sorgen, dass aufsteigende Feuchtigkeit das Bild nicht zerstört. Außerdem ist es ungünstig, dass auf Kunstharzen basierende Sprühfarbe verwendet wurde. Das hält nicht gut auf dem Putz, der ja ein mineralischer Untergrund ist“, fachsimpelt der Immobilienunternehmer. Langners größte Sorge ist, dass die Verantwortung an ihm kleben bleibt. „Man muss sich ja immer fragen, was das alles kosten und wer das bezahlen soll.“ Manchmal klingt er, als würde er das Bild am liebsten aus der Fassade lösen und in ein Museum verfrachten lassen. Doch diese Option steht nicht mehr zur Debatte, denn die sächsischen Denkmalpfleger haben die Madonna zum Teil des Kulturdenkmals erklärt, welches das ganze Haus darstellt. Darüber hinaus ginge der Street-Art-Charakter verloren, würde man das Bild von seinem Platz entfernen. „Die beste aller Lösungen ist, die Madonna bleibt wo sie ist“, meint deshalb auch die Wiederentdeckerin Maxi Kretzschmar.

 

Also verhandeln die Behörden und Langner, wie das Bild gesichert und dauerhaft für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden kann. Sie sind optimistisch, dass eine Lösung gefunden wird. Für Juli hat Xavier Prou alias Blek le Rat seinen Besuch angekündigt, um die Madonna sorgsam zu restaurieren. So soll sie bald wieder Teil der Schulwege in der Gegend werden – und mit ein bisschen Glück wird sie vielleicht sogar Vorbild für die Leipziger Graffiti-Crews, wenn es darum geht, Schönheit den Vorzug vor Größe zu geben. 

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