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Ein Streit, der die Menschheit erklärt

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Neulich saß ich vor einem Café. Die Sonne schien. Es war fast schon Frühling. Neben mir zwei Touristen in Funktionsjacken. Sie zahlten. Der eine sagte: "Komm, wir laufen noch zum Fluss. Da ist es schön." Der andere sagte: "Keine Lust. Am Fluss ist es kalt. Ich will lieber heim." 

"Du bist faul!", sagte der erste.

"Du bist dumm!", sagte der zweite.

Und ich dachte: genau! Diese Szene ist, leicht verkürzt, die ganze Geschichte der Menschheit. Einer will weiter. Der andere nicht. Es gibt Streit.

Soweit wir wissen, entwickelt sich der Mensch. Wie fast jedes Lebewesen versucht er, sich und seine Welt zu verbessern. Für sich. Und manchmal auch für andere. Weil er manchmal schon alles kann und kennt, wird ihm langweilig. Er will mehr. Aus Unterforderung wird Neugierde, aus Neugierde wird Fortschritt. Manchmal auch Katastrophe. Manchmal auch Evolution.

 

Jedenfalls: Einer will immer zum Fluss. Mal schauen, was da so geht. Man könnte ja auf etwas Neues treffen!

 

Aber der Mensch ist auch vorsichtig. Wer in grauer Vorzeit ein Rascheln im Gebüsch hörte und neugierig hineinlugte, traf manchmal einen Tiger. Und war danach zu tot, um sich noch weiter fortzupflanzen. Wer rannte, überlebte. Wer also lieber einmal zu oft rannte, als einmal zu wenig, war zwar ziemlich oft außer Puste. Aber lebte auch länger. Und machte Kinder. Und damit uns.

 

Wir sind also die Nachfahren nicht nur der Todesmutigen, sondern auch der stets vorsichtigen Exemplare. Deswegen sind manche von uns manchmal recht zaghaft. Fühlen sich vom Vorwärtsdrang der anderen überfordert. Wollen lieber heim. Aus der Überforderung wird Angst, aus Angst Aggression, aus Aggression Hass. Noch mal: leicht verkürzt.

 

Jedenfalls: Einer will immer lieber nicht zum Fluss. Könnte ja gefährlich sein da. Man könnte ja auf etwas Neues treffen!

 

Wir säßen noch "auf den Bäumen", wie man so sagt, wenn unser Drang Richtung Fluss nicht manchmal stärker gewesen wäre als alles andere. Und sich gegen die Bremser durchgesetzt hätte. Wir wären alle tot oder nie geboren, wenn nicht einer immer noch mal überlegen würde, was denn am Fluss auf uns wartet. Und den anderen gebremst hätte. Nicht ganz verkehrt, diese Mischung.

 

Momentan hat man aber leider das Gefühl, dass gewisse Errungenschaften unserer Zivilisation – zum Beispiel der Konsens, nicht auf Unschuldige zu schießen, jedem Menschen zumindest theoretisch den gleichen Wert beizumessen, sich nicht ständig zu laut anzuschreien – zur Diskussion stehen. Dass wir längst am Fluss waren, wo es schön war und kühl, aber nicht zu kühl und grade wollte der erste mit Anlauf reinspringen, da zerren ihn die Angsthasen plötzlich zurück: "Das wird unser Untergang", schreien sie. "Der Fluss ist böse!"  Das hört man in regelmäßigen Abständen. Wie ein Echo, das aus der Vergangenheit herüber schallt. Mal lauter, mal leiser. Weil ihnen etwas zu schnell ging. Und sie Angst vor dem Tempo bekommen. Und Angst ein schlechter Ratgeber ist.

 

Andererseits merken wir daran, dass wir vielleicht noch nicht genug drüber nachgedacht haben, was am Fluss genau auf uns wartet. Also ganz konkret. Dass unser Optimismus zwar für manche von uns gut funktioniert, aber wir auch mal innehalten und das Risiko abschätzen müssen. Dass man alles schaffen kann. Aber nur, wenn man weiß wie. Und dass es leichter fällt, je mehr andere man überzeugen kann. Das sollten wir jetzt machen. Kann ja nicht schaden.

 

Aber vor allem sollten wir uns nicht aus der Ruhe bringen lassen. Sollen sie zetern. Sollen sie doch nach Hause rennen. Dann warten wir eben. Und holen sie nach. Langsam, ganz langsam. Im Krebsgang, zwei vor, eins zurück, bewegen wir uns zu den Flüssen dieses Universums. Zum Guten. Aufeinander zu.

 

Das hätte ich auch den zwei Streithähnen im Café sagen sollen. Aber die werden sich schon noch einig. Müssen sie. Diskussion, Kompromiss, mehr Diskussion. So dreht sich die Welt eben.

 

Im Café bin ich lieber aufgestanden und habe gezahlt. Und bin selber schnell zum Fluss gelaufen. War kühl da. Aber angenehm. 

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