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Jungs, wovor fürchtet ihr euch nachts auf dem Heimweg?

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Die Mädchenfrage:

Meine Kollegin Mercedes schrieb neulich in einem Text über einen Nachtspaziergang im Englischen Garten diesen sehr schönen Satz: „Denen gehört vielleicht eigentlich die ganze Welt: alten Männern, die keine Angst mehr haben, dass sie jemand wegraubt oder ihnen was tut, und die deshalb einfach überall hingehen können, zu jeder Zeit.“ Das ist toll gesagt. Und hat bei mir den folgenden Gedanken ausgelöst: Als Mädchen kann man das nicht. Einfach überall hingehen, zu jeder Zeit, ohne Angst zu haben, weggeraubt zu werden.

Oder: Kann man vielleicht schon. Aber es wird einem suggeriert, dass man es nicht kann. Das ist eine anerzogene Angst. Klar, kommt so ein bisschen auf das Elternhaus an und wie regelmäßig man dort „Aktenzeichen XY“ angeschaut hat. Aber ich kenne schon viele Mädchen und Frauen, denen man eine gehörige Portion Nachtangst mit auf den Weg gegeben hat. Da war dann ein besorgter Vater oder eine vorsichtige Mutter und er oder sie wollte die Tochter lieber nicht nachts alleine vom Bus nach Hause laufen oder in diesen abgeschrammelten Club gehen lassen. Natürlich sind wir dann doch alleine gelaufen oder in den Club gegangen, aber vorher wurden wir umfassend gewarnt, beratschlagt und ausgefragt: „Pass auf, wenn du spät heimkommst, man weiß ja nie“, „Ist die Miri auch noch dabei? Mir wär wohler, wenn ihr zu zweit wärt“, „Geh besser außenrum, auch wenn der Weg weiter ist, aber da gibt’s wenigstens Straßenlaternen“, „Schreib bitte eine SMS, wenn es später als drei wird“. Einige meiner Mitschülerinnen waren sogar immer mit Pfefferspray bewaffnet. 

Ich erinnere mich auch an diverse Momente, in denen ich selbst diese Angst hatte, die mir von Eltern, Medien, Filmen und Serien mitgegeben worden war. Wenn ich an einer dunklen Straße entlanglief, rechts von mir Gebüsch und ein Park. Oder wenn ich nach Mitternacht in einer fast leeren, rumpelnden Regionalbahn saß, die gerade die tiefste Provinz durchquerte. Dann beäugte ich misstrauisch jeden, der an mir vorbeikam. War es eine Frau: Erleichterung. War es ein Mann: abchecken, ob er vertrauenswürdig oder irgendwie creepy aussieht. Dabei das Handy immer griffbereit haben.

Und dann kam das große Reinsteigern: Könnte man einfach an einer Haustür klingeln? Sich auf dem Zugklo einschließen? In eine Sparkasse rennen? Aber was, wenn der fiese Verbrecher auch eine Sparkassen-EC-Karte hat, mit der er die Tür öffnen kann – dann sitze ich ja erst recht in der Falle! Oder schaut jemand die ganze Nacht das Überwachungsvideo an und rettet mich dann? Was, wenn man mich hier wegklaut und keiner merkt’s und dann melden meine Eltern es morgen früh der Polizei, aber die finden mich nicht, und dann bin ich eines von den verschwundenen Mädchen, über die bei „Aktenzeichen XY“ berichtet wird, und nur ich und der Täter wissen, dass ich tot bin oder in einem Keller eingesperrt.

Kurz gesagt: Ich hatte harte Paranoia. Manchmal habe ich die heute noch. Ehrlich gesagt: nicht nur manchmal. Und weil ich noch gar nicht gesagt habe, wovor wir denn jetzt konkret Angst haben: davor, vergewaltigt zu werden. Davor, dass ein Mann, der sehr viel mehr körperliche Kraft hat als wir, uns in einen Hauseingang drängt oder in einen Straßengraben zieht. Sexuelle Gewalt, das wird uns so beigebracht, kann uns immer und überall erwischen. Und jede von uns kennt dann auch noch mindestens eine Freundin, der so was mal passiert ist. 

So, und nun zur Frage: Was, liebe Jungs, ist euer Pendant zu unserer Nachtangst? Vor was haben Mama und Papa euch gewarnt? Wovor fürchtet ihr euch, wenn ihr im Dunkeln unterwegs seid? Und wo? Auf einsamen Straßen, so wie wir? Oder eher in der Innenstadt? Oder vielleicht auch einfach: gar nicht? Nie? Vor niemandem? Sagt doch mal: Welche „Aktenzeichen XY“-Szenarien haben euch am meisten Angst gemacht?

Die Jungsantwort von Christian Helten:

Jetzt sitze ich hier schon eine Weile vor dem leeren Word-Dokument und kämpfe gegen meine Erinnerungslücken. Ich habe in meinem Kopf gegraben und versucht mir vor Augen zu rufen, wie das war, als ich noch zu Hause wohnte und Ausgehen spannender wurde als Wetten-dass-Gucken. Welche Warnungen meine Eltern aussprachen, wenn ich abends das Haus in Richtung Party verließ. Welche Sicherheitsvorkehrungen sie trafen und welche Tipps sie mir mit auf den Weg gaben. Was sie erlaubten und was nicht. 

Aber da ist kaum etwas. Keine deutliche Erinnerung an bestimmte Verbote und Auflagen, die mich vor bösen Fremdeinwirkungen schützen sollten. Keine Szenen oder typischen Mutti-Sorgen, wie sie dir noch heute so deutlich im Kopf herumschwirren und dich auf dem Heimweg ängstigen. Und diese Leere in meinem Kopf ist schon ein erster Anhaltspunkt in Sachen Nachtangst. Sie zeigt, dass wir Jungs deutlich weniger für äußere Gefahren auf unserem Heimweg sensibilisiert wurden - und ergo weniger Angst hatten und haben.

Eigentlich müsste ich im vorigen Satz noch ein Wortpaar hervorheben:äußere Gefahren. Denn natürlich warnen Eltern auch uns Jungs. Aber – und das ist etwas ganz anderes – sie warnen uns meistens vor uns selbst. Vor Dingen, die wir wegen unseres dummen Jungsübermuts tun. Wegen unseres Starkseinwollens, wegen unseres Unvernunft produzierenden (post-)pubertären Draufgängertums. Sie haben keine Angst, dass wir vergewaltigt werden. Sie haben Angst, dass wir betrunken ein Auto zu Schrott fahren oder randalieren und dann eine Anzeige am Hals haben. Damit kommen sie bei uns aber nicht weit. Ein 15-Jähriger, der Angst vor sich selbst hat? Come on!

Oder: Kann man vielleicht schon. Aber es wird einem suggeriert, dass man es nicht kann. Das ist eine anerzogene Angst. Klar, kommt so ein bisschen auf das Elternhaus an und wie regelmäßig man dort „Aktenzeichen XY“ angeschaut hat. Aber ich kenne schon viele Mädchen und Frauen, denen man eine gehörige Portion Nachtangst mit auf den Weg gegeben hat. Da war dann ein besorgter Vater oder eine vorsichtige Mutter und er oder sie wollte die Tochter lieber nicht nachts alleine vom Bus nach Hause laufen oder in diesen abgeschrammelten Club gehen lassen. Natürlich sind wir dann doch alleine gelaufen oder in den Club gegangen, aber vorher wurden wir umfassend gewarnt, beratschlagt und ausgefragt: „Pass auf, wenn du spät heimkommst, man weiß ja nie“, „Ist die Miri auch noch dabei? Mir wär wohler, wenn ihr zu zweit wärt“, „Geh besser außenrum, auch wenn der Weg weiter ist, aber da gibt’s wenigstens Straßenlaternen“, „Schreib bitte eine SMS, wenn es später als drei wird“. Einige meiner Mitschülerinnen waren sogar immer mit Pfefferspray bewaffnet. 

 

Ich erinnere mich auch an diverse Momente, in denen ich selbst diese Angst hatte, die mir von Eltern, Medien, Filmen und Serien mitgegeben worden war. Wenn ich an einer dunklen Straße entlanglief, rechts von mir Gebüsch und ein Park. Oder wenn ich nach Mitternacht in einer fast leeren, rumpelnden Regionalbahn saß, die gerade die tiefste Provinz durchquerte. Dann beäugte ich misstrauisch jeden, der an mir vorbeikam. War es eine Frau: Erleichterung. War es ein Mann: abchecken, ob er vertrauenswürdig oder irgendwie creepy aussieht. Dabei das Handy immer griffbereit haben.

 

Und dann kam das große Reinsteigern: Könnte man einfach an einer Haustür klingeln? Sich auf dem Zugklo einschließen? In eine Sparkasse rennen? Aber was, wenn der fiese Verbrecher auch eine Sparkassen-EC-Karte hat, mit der er die Tür öffnen kann – dann sitze ich ja erst recht in der Falle! Oder schaut jemand die ganze Nacht das Überwachungsvideo an und rettet mich dann? Was, wenn man mich hier wegklaut und keiner merkt’s und dann melden meine Eltern es morgen früh der Polizei, aber die finden mich nicht, und dann bin ich eines von den verschwundenen Mädchen, über die bei „Aktenzeichen XY“ berichtet wird, und nur ich und der Täter wissen, dass ich tot bin oder in einem Keller eingesperrt.

 

Kurz gesagt: Ich hatte harte Paranoia. Manchmal habe ich die heute noch. Ehrlich gesagt: nicht nur manchmal. Und weil ich noch gar nicht gesagt habe, wovor wir denn jetzt konkret Angst haben: davor, vergewaltigt zu werden. Davor, dass ein Mann, der sehr viel mehr körperliche Kraft hat als wir, uns in einen Hauseingang drängt oder in einen Straßengraben zieht. Sexuelle Gewalt, das wird uns so beigebracht, kann uns immer und überall erwischen. Und jede von uns kennt dann auch noch mindestens eine Freundin, der so was mal passiert ist. 

 

So, und nun zur Frage: Was, liebe Jungs, ist euer Pendant zu unserer Nachtangst? Vor was haben Mama und Papa euch gewarnt? Wovor fürchtet ihr euch, wenn ihr im Dunkeln unterwegs seid? Und wo? Auf einsamen Straßen, so wie wir? Oder eher in der Innenstadt? Oder vielleicht auch einfach: gar nicht? Nie? Vor niemandem? Sagt doch mal: Welche „Aktenzeichen XY“-Szenarien haben euch am meisten Angst gemacht?

 

 

Die Jungsantwort von Christian Helten:

 

Jetzt sitze ich hier schon eine Weile vor dem leeren Word-Dokument und kämpfe gegen meine Erinnerungslücken. Ich habe in meinem Kopf gegraben und versucht mir vor Augen zu rufen, wie das war, als ich noch zu Hause wohnte und Ausgehen spannender wurde als Wetten-dass-Gucken. Welche Warnungen meine Eltern aussprachen, wenn ich abends das Haus in Richtung Party verließ. Welche Sicherheitsvorkehrungen sie trafen und welche Tipps sie mir mit auf den Weg gaben. Was sie erlaubten und was nicht. 

 

Aber da ist kaum etwas. Keine deutliche Erinnerung an bestimmte Verbote und Auflagen, die mich vor bösen Fremdeinwirkungen schützen sollten. Keine Szenen oder typischen Mutti-Sorgen, wie sie dir noch heute so deutlich im Kopf herumschwirren und dich auf dem Heimweg ängstigen. Und diese Leere in meinem Kopf ist schon ein erster Anhaltspunkt in Sachen Nachtangst. Sie zeigt, dass wir Jungs deutlich weniger für äußere Gefahren auf unserem Heimweg sensibilisiert wurden - und ergo weniger Angst hatten und haben.

 

Eigentlich müsste ich im vorigen Satz noch ein Wortpaar hervorheben:äußere Gefahren. Denn natürlich warnen Eltern auch uns Jungs. Aber – und das ist etwas ganz anderes – sie warnen uns meistens vor uns selbst. Vor Dingen, die wir wegen unseres dummen Jungsübermuts tun. Wegen unseres Starkseinwollens, wegen unseres Unvernunft produzierenden (post-)pubertären Draufgängertums. Sie haben keine Angst, dass wir vergewaltigt werden. Sie haben Angst, dass wir betrunken ein Auto zu Schrott fahren oder randalieren und dann eine Anzeige am Hals haben. Damit kommen sie bei uns aber nicht weit. Ein 15-Jähriger, der Angst vor sich selbst hat? Come on!

 

Und doch gibt es auch bei uns eine Nachtangst. Sie überfällt uns aber weniger auf einsamen, dunklen Wegen, bei denen wir nicht sehen können, ob jemand im Gebüsch lauert. Sondern an belebten Orten, vor allem an solchen, in denen Alkohol auf Testosteron und oder Dummheit trifft. Ganz egal ob in der Innenstadt oder auf dem Parkplatz neben dem Dorffest. Es ist die Angst davor, eine aufs Maul zu bekommen. Von dumpfbackigen Schlägertypen, die ausrasten, wenn wir im Burger King einen falschen Blick auf ihre Pommes werfen. Von Besoffenen, die ihren Frust darüber, an der Clubtür abgewiesen worden zu sein, an irgendwem auslassen müssen. Von Idioten, die aus Langeweile Ärger suchen und provozieren.  Wir kennen solche Geschichten ja zur Genüge. Wir lesen darüber in den Lokalnachrichten, manche Fälle erregen sogar bundesweit Aufmerksamkeit.

 

Und ich behaupte - und das ist ganz ähnlich wie bei euch in Sachen Vergewaltigung - dass fast jeder von uns schon mal auf einem nächtlichen Heimweg in einer Situation war, die mit einem blauen Auge oder Schlimmerem geendet hat oder beinahe hätte. Oder einen guten Freund hat, der in einer solchen Situation war. An diese Situationen denken wir, wenn wir nachts in der S-Bahn angerempelt werden. Wir sagen dann manchmal lieber nichts. Und wir schauen lieber zu Boden, wenn eine Gruppe aggressiv wirkender Jungs neben uns am Dönerstand auftaucht und uns provokant anschaut, weil sie wollen, dass wir zurückschauen und sie dann sagen können „Was guckst du so, Alter?“ und dann weiterprovozieren und draufhauen können.

 

Das mag manchmal auch Einbildung sein. Im Idealfall schützt uns die Nachtangst aber davor, eine in die Fresse zu bekommen. Manchmal wird sie aber verdrängt oder überholt. Von dem alten Starkseinwollen und dem Jungsübermut. Denn die Angst davor, die lernen halt viele von uns nie so richtig.

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