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Stille Macht

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Allein die Frage, da geht’s ja schon los. Wir sitzen in einer Kneipe in Nürnberg, sechs Leute, ein Freitagabend. Der Abend ist bereits drei Biere alt, das Gespräch sehr nett, und es kündigt sich langsam eine Redepause an. Eigentlich ganz angenehm. Aber zack – quasselt einer rein. Die Frage also: "Warum machen in Nürnberg eigentlich so viele Kneipen um elf zu?"

Na gut, denke ich, reden wir über Ladenschlusszeiten. Ist ein bisschen so, als würde man darüber sprechen, dass Bäume Blätter tragen, aber egal. Doch plötzlich sagt einer: "Elf Uhr, ein wenig streng, die NSDAP hat wohl ihre Spuren hinterlassen hier." Keine Ahnung, was das sein sollte. Ein Witz? Ein kantiger Kommentar? Letztlich wohl nur eines: unfassbarer Blödsinn.

Man erlebt das in Kneipenrunden, in der Mensa oder im Zug: Menschen geben sinnfreies Gequatsche von sich. Sie reden, ohne etwas zu sagen. Vielleicht aus Verlegenheit. Vielleicht, weil sie die Stille am Tisch nicht ertragen. Oder um irgendwie mitzureden. Dabei zeigt sich kommunikative Reife genau dann, wenn jemand weiß, wann man besser den Mund hält.

An sich ein völlig normales Bedürfnis, das Mitreden-Wollen. Jeder will schließlich dabei sein, dazugehören. Schon als Kind. Ich weiß noch, wie ich bei Familien­feiern unbedingt am Erwachsenen­tisch sitzen wollte. Wie ich mich zwischen meine Eltern gequetscht habe, den Kopf gerade so über der Tischkante, und verstehen wollte,­ worüber die Großen reden. Tat ich aber nicht. Also habe ich was ­dazwischengequäkt. Bewegendes aus der Playmobil-Welt.

Mit der Pubertät erreicht dieses Mitreden-Wollen eine neue Dimension. Wir bekommen einen Begriff von der Welt und beginnen zu verstehen, wovon die Erwachsenen am Tisch sprechen.  Heißt: Wir können allmählich mitdiskutieren und bewegen uns auf das zu, was man Augenhöhe nennt. Heißt aber auch: Das Ge­quatsche erreicht seinen ersten Peak. Als Jugendliche verteidigen wir unsere Meinung manchmal heftiger als nötig. Vertreten manche Position nur, um zu testen, wie das ankommt und wie weit man gehen kann. Oder, um den Eltern gegen’s Schienbein zu treten.

 

Werner Greve ist Entwicklungspsychologe und lehrt an der Universität Hildesheim. Er vergleicht das Lernen und Trainieren von Kommunikation mit dem Fahrradfahren: "Am Anfang gibt es viele Ausschläge, wir fallen auch mal um. Wenn wir das aber eine Weile üben, wird der Weg immer gerader." Gerader wird er also auch, wenn wir mehr überlegen, statt draufloszulabern. Wenn wir gelernt haben, wann es besser ist, nichts zu sagen.

 

Trotzdem fällt das manchen von uns schwer. In der Kneipe ist das nervig, aber nicht wirklich schlimm. Auf politischer Ebene aber kann vermeintlich unüberlegtes Zeug gefährlich werden. Man braucht dazu nur auf Donald Trumps Twitter-Account zu klicken. Die Gefahr eines Atomkonflikts war in der jüngeren Vergangenheit selten so präsent wie während der Tage, an denen der US-Präsident Kim Jong-un eine Drohung nach der anderen zwitscherte.

Dabei muss es noch nicht mal gefährlich sein, es reicht schon, dass Unüberlegtes peinlich werden kann. Edmund Stoiber etwa hätte es nicht geschadet, wenn er während seiner Transrapid-Rede irgendwann den Stecker gezogen hätte. Umgekehrt wirken Politiker meist souverän, wenn sie sich zurückhalten. Wie der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann während eines Fernsehinterviews 2014. Russland hatte gerade die Krim annektiert, was denn seine Meinung dazu sei? "Das Thema ist schwierig genug, das muss die Bundesregierung machen. Wenn jetzt jeder der 16 Ministerpräsidenten auch noch seinen Kommentar dazu abgibt, wäre das nicht ganz angemessen."

 

Dass sich jemand zum Nichts-Sagen bekennt, ist selten, egal ob in der Politik oder in der Kneipe. Liegt möglicherweise auch daran, dass wir das Stillhalten nicht mehr wirklich trainieren. "Wir leben in einem Jahrhundert, in dem kaum mehr Pausen gemacht werden", sagt der Psychologe Greve. "Um uns herum läuft immer ­irgendein Geräusch, irgendeine Information." Info-Screens in der U-Bahn, Meldungen auf dem Smartphone, Einblendungen während Fußballübertragungen: Alles quäkt und quasselt. Vor allem bei uns, sagt Greve: "In anderen Kulturen werden sehr viel mehr Pausen gemacht. Nomaden in der Wüste schweigen oft den ganzen Tag, weil das Reden viel Flüssigkeit kostet."

 

Nur: Wie trainiert man Pausen? Die Wissenschaft hat dafür kein Rezept parat, Werner Greve kann nur aus persönlicher Erfahrung sprechen: "Am meisten hilft es, das selbst hartnäckig nicht zu tun. Also nicht jede Pause mit irgendeinem Quatsch zu füllen." ­Werde ich in der nächsten Kneipenrunde ausprobieren. Ich übe schon mal, darum: Schluss jetzt.

 

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