Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

"Ich sehe mich nicht als Opfer"

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Irgendwie endeten viele Wortbeiträge an diesem Abend bei Shahaks Penis. „Berlin ist fantastisch. Würde ich auf sowas stehen, würde ich hier unbesorgt mit meinem beschnittenen Schniedel und einem Davidstern daran durch die Stadt laufen“, postete er am 5. Januar auf Facebook. Da muss man sich einige Witze gefallen lassen. „Mach mal!“ ruft einer aus dem Publikum. „Ohne den Davidstern könnte es natürlich auch ein muslimischer Schniedel sein“, gibt ein anderer zu bedenken. Shahak lacht darüber, setzt oft sogar noch einen drauf. Das ist seine Art, um mit den Dingen umzugehen, die ihm am Neujahrsmorgen in Berlin widerfahren sind.

Der 26-jährige Israeli, der mit 14 nach Deutschland zog, wurde am Neujahrsmorgen in Berlin von etwa sieben Männern türkischer oder arabischer Herkunft im Berliner Bahnhof Friedrichstraße bespuckt und verprügelt. Ein klarer Fall eines antisemitischen Übergriffes, schrieben viele Medien. Shahak sagt allerdings: „Die wussten doch zunächst gar nicht, dass ich Jude bin, das sieht man mir jetzt nicht direkt an.“ Und darum geht es heute Abend in den Räumen der Neuköllner Bürgerstiftung auch hauptsächlich: um die Frage, ob Antisemitismus manchmal auch instrumentalisiert wird, um gegen andere zu hetzen – in diesem Fall gegen Muslime.

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Shahak Shapira

Neben Shahak mit seinen blonden Strubbelhaaren und dem Kratzer überm Auge (kein Überbleibsel von der Neujahrsprügelei, wie er später sagt, das sei alles schon verheilt) sitzen Hannah Tzuberi, Mitarbeiterin am Institut für Judaistik der FU, und Sultan Doughan, Kulturanthropologin an der Uni Berkeley, beide moderieren die Veranstaltung. Und Armin Langer, angehender Rabbiner und Mitbegründer der Salaam-Schalom-Initiative, die sich für den jüdisch-muslimischen Dialog einsetzt (unser Interview mit Armin findet ihr hier). Armins Gruppe hat heute Abend zu der Veranstaltung eingeladen, das Publikum ist bunt gemischt. Herren mit Seidenschals und Frauen mit Dutt und rotem Lippenstift sitzen neben Männern mit Antifa-Buttons an der Mütze und Frauen in schwarzen Kapuzenpullovern. Sie alle wollen wissen, was Shahak, der als Art-Director in Berlin arbeitet, genau passiert ist, viele haben darüber in den Medien gelesen. Armin bemerkt später, dass im Publikum etwa ein Drittel Muslime und ein Drittel Juden saßen, die gemeinsam diskutiert haben. Eine Konstellation, die sonst leider viel zu selten zusammenkommt. 

Shahak fragt die Gruppe, was ihr Problem mit Israel sei. Daran wird sich später alles aufhängen.

Als Shahak zu Beginn erzählen soll, was genau ihm in dieser Neujahrsnacht widerfahren ist, wirkt er ruhig, nestelt nur ab und zu an seiner Hosentasche. Von Wut keine Spur, dabei laufen die Täter noch immer frei herum. Shahak war in dieser Nacht mit Freunden in der gut gefüllten U-Bahn unterwegs, es sollte vom Halleschen Tor in Kreuzberg noch zu einer Bar im Prenzlauer Berg gehen. In der U6 beobachtete er dann, wie eine Gruppe von etwa sieben Männern „arabischer oder türkischer Herkunft“ zwischen 17 und 22 Jahren, Gesänge mit „Fuck Israel“ und „Fuck Juden“ anstimmte. Er spricht nicht von „Muslimen“, die Behauptung, dass es sich dabei, wie manchmal geschrieben wurde, um Neonazis gehandelt habe, weist er zurück: „Meines Wissens nach sind Neonazis Menschen, die Hitlers Ideologie gut fanden – da ist man als Muslim nicht so gut mit beraten, denke ich“, sagt Shahak und lacht wieder. Als zwei Männer in der Bahn die Gruppe bitten, ihre Gesänge einzustellen, werden diese aggressiv, fangen an sie zu bedrohen und bespucken.

Shahak ist zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht in den Streit involviert, trotzdem holt er sein Handy raus und filmt die Situation „Ich hatte das Gefühl, es eskaliert gleich und dann wollte ich, dass man diese Leute findet“, sagt er heute Abend. Die Gefilmten finden das nicht gut. Sie wollen, dass Shahak das Video löscht, als er sich weigert, wird er bespuckt. Am Bahnhof Friedrichstraße steigen alle aus, die Situation eskaliert. Shahak wird geschlagen, wehrt sich, irgendwann ziehen ihn seine Freunde in die U-Bahn, am Bahnsteig sieht er noch Mitarbeiter der Berliner Verkehrsbetriebe auftauchen. Und irgendwo dazwischen, im Eifer des Gefechts, fragt Shahak die Gruppe, was eigentlich ihr Problem mit Israel und Juden sei, er komme von dort. Der Punkt, an dem sich alle Nachrichten in den darauffolgenden Tagen aufhängen werden.

Shahak hat von dem Vorfall eine leichte Gehirnerschütterung und blaue Flecke, am Folgetag erstattet er Anzeige. Die Polizei gibt eine Pressemeldung über einen antisemitischen Übergriff heraus. Medien greifen das Thema auf, für viele ist schnell klar, dass es sich bei den Tätern um Nazis oder Muslime handeln muss. Israelische Medien machen an dem Vorfall fest, dass es für Juden immer noch gefährlich in Europa sei, sie wieder nach Hause kommen sollten. Sogar die PEGIDA-Bewegung versucht den Vorfall für sich zu nutzen und teilt einen Artikel über Shahak auf Facebook mit der Botschaft: „Muslime fühlen sich durch PEGIDA diskriminiert und lassen es an Juden aus.“

PEGIDA versucht Shahaks Fall zu instrumentalisieren. Er schreibt ihnen, dass sie sich verpissen sollen.

Und auf all das hat Shahak keine Lust. „Ich habe den PEGIDA-Leuten dann darunter geschrieben, dass sie sich verpissen sollen. Das haben die direkt gelöscht“, erzählt Shahak und grinst wie einer, der sich über einen geglückten Streich freut. Er will sich nicht instrumentalisieren lassen und veröffentlicht auf Facebook den Post über seinen beschnittenen Schniedel und die Liebe zu Berlin. Eine Botschaft, die viele überrascht, die das Bild vom antisemitischen Berlin verstärken wollten. Die Reaktionen auf Facebook sind allerdings nahezu alle positiv – insbesondere die von Muslimen. „Ich sehe mich nicht als Opfer und ich will auch nicht, dass Leute denken, ich hätte als Jude nun Angst, in Neukölln rumzulaufen“ sagt Shahak heute Abend in Neukölln. Jemand im Publikum applaudiert, viele nicken zustimmend, auch die Muslime. Nur eine ältere Frau flüstert ärgerlich in sich hinein „Naja, wenn keiner miteinander redet, wird auch nichts besser.“

Dann meldet sich in ein junger Muslim zu Wort. Er fände es problematisch, dass ihm und anderen muslimischen Jugendlichen immer automatisch Antisemitismus vorgeworfen werden würde, wenn sie den Staat Israel kritisieren würden. Eine junge Frau erzählt von Jugendlichen, die Mitte 2014 in Kreuzberg gegen den Gaza-Krieg demonstriert haben – unwissentlich in der Nähe einer Synagoge. Ihnen sei sofort vorgeworfen worden, das jüdische Gotteshaus anzusteuern. Ein dritter ärgert sich darüber, dass auch auf der heutigen Veranstaltung, oft unbewusst, das Wort „südländisch“ als Synonym für muslimisch verwendet werde, dabei hänge das nicht zwingend zusammen. Shahak nickt, alle diskutieren. Irgendwann fragt ihn eine junge Frau aus dem Publikum: „Hast du jetzt wirklich keine Angst rauszugehen?“. Shahak antwortet: „Nein, man redet den Leuten nur gerade viel zu sehr ein, dass sie Angst vor einer sogenannten Islamisierung haben sollten. Dabei gibt es nicht mal fünf Prozent Muslime in Deutschland. Menschen, die mit einem blöden Schild rumlaufen, auf dem steht 'Israelis sind Kindermörder' oder die in einem vollen Zug 'Fuck Israel' singen – die sollten Angst haben.“

Auch wenn seine Täter noch nicht gefunden wurden - er ist sich sicher, dass das bald geschieht. Neben seinem Handy hat auch eine Überwachungskamera in der vollen Bahn alles aufgezeichnet. Und dann kommt der einzige Punkt an diesem Abend, an dem Shahak doch ein bisschen wütend wird. Die Kamera hat nämlich auch aufgezeichnet, was die anderen Menschen in der Bahn tun, als der Streit eskaliert: nichts.

Text: charlotte-haunhorst - Foto: Charlotte Haunhorst

  • teilen
  • schließen