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Meine erste Nacht im Gefängnis

Foto: Paul Lovis Wagner

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Die Autorin dieses Textes möchte anonym bleiben, da sie unter Tatverdacht des schweren Landfriedensbruchs steht. Der wird erst nach drei Jahren hinfällig.

lausitz paul lovis wagner
Foto: Paul Lovis Wagner

„Aufwachen!“, schreit der Polizeibeamte und tritt gegen die Plastikmatratze neben mir, auf der eine junge Frau mit angezogenen Knien schläft. „Sind Sie das?“, fragt der Polizist und zeigt auf das Aufnahmefoto in seiner Hand. Es ist eines dieser Fotos, die man aus Krimis kennt, wo Menschen von allen Seiten belichtet werden und dabei ein Schild mit einer Nummer hochhalten. Nur dass die blonde Frau auf diesem Foto die Zunge herausstreckt und die Augen verdreht.

Meine Nachbarin zieht die dünne Papierdecke noch ein Stückchen höher und schüttelt den Kopf. Der Vollbart, den sie sich als Tarnung schon vor ihrer Festnahme mit Edding über das halbe Gesicht gemalt hat, verschmiert jetzt auch ihre Stirn. Sie sieht grotesk gefährlich aus. Der Polizist ist sichtlich überfordert. Er lässt seinen Blick über die anderen fünf Frauen im Raum streifen, stellt mir noch mal die gleiche Frage, zuckt mit den Schultern, weil auch von mir keine Antwort kommt, und lässt resigniert die gepanzerte Zellentür hinter sich zufallen. Er weiß, dass er von mir keine Informationen bekommen wird. Es wird eine lange Nacht.

Dass ich von meinem Recht, die Aussage zu verweigern, Gebrauch machen würde, hatte ich schon vor der Aktion für mich beschlossen. Das hatten mir erfahrenere Aktivisten geraten. Paranoia, dachte ich da noch. Ich wusste zwar, dass die Aktion mein gewöhnliches Demo-Niveau an Aufregung überschreiten würde, ich hätte aber nicht damit gerechnet, dass sich die Vorsicht wirklich noch lohnen würde. Meinen Ausweis hatte ich trotzdem vorsichtshalber im Zelt gelassen und auf dem Weg zum Kraftwerk „Schwarze Pumpe“ gefühlt tausendmal Rucksack und Hosentaschen auf Hinweise zu meiner Identität durchsucht. Irgendwo noch eine Quittung? Ein Abholschein aus der Bibliothek? Eine Notiz? Nur zur Sicherheit, dachte ich da noch. 

Bis zur Besetzung des Kraftwerks "Schwarze Pumpe" am Samstagnachmittag wurden die Protestaktionen des Bündnis' "Ende Gelände" am vergangenen Wochenende nur wenig von der Polizei beachtet. Worum es dabei geht? Vattenfall will den Tagebau Welzow-Süd an das tschechische Unternehmen EPH verkaufen. Die Aktivisten fordern den endgültigen Kohleausstieg in der Region und wollen deshalb potenziellen Käufern das Kraftwerk etwas weniger schmackhaft machen. Wer kauft schon gerne eine Anlage, deren Betrieb gedrosselt werden muss, weil Bagger und Förderbänder von Aktivisten blockiert werden, die sich auch an Zufahrtswegen anketten und sogar einbetonieren? Vattenfall musste den Normalbetrieb des Kraftwerks auf 20 Prozent herunterfahren. Das Ziel des Bündnisses, ein Zeichen für Klimagerechtigkeit und erneuerbare Energien zu setzen, war damit schon fast erreicht. Das spornte sie weiter an. Neues Ziel: den Betrieb vollständig lahmlegen.

Wobei niemand gedacht hatte, dass es so einfach sein würde, direkt auf das Vattenfall-Gelände zu spazieren. Fast wäre ich über den Zaun gestolpert, der von den mehr als 300 Aktivisten vor mir bereits in den staubigen Boden eingetreten worden war. Noch immer keine Polizei. Die Stimmung war ausgelassen, einige rannten in die Gebäudeaufgänge, um die Feueralarme auszulösen, andere folgten der pink gekleideten Samba-Gruppe und bewegten sich tanzend über das Gelände. Und dann plötzlich doch: Polizei, Pfefferspray, Gummiknüppel, wildes Gerenne in alle Richtungen. Panik. 

 „Dann machen Sie sich mal nackig.“

"Wissen se, warum se hier sind?", fragt die Polizistin, die von ihrer Kollegin mit Sibylle angesprochen wird.

Ich verneine.

"Schwerer Landfriedensbruch war dit. Dann machense sich mal nackig."

"Ganz?", frage ich.

Sybille verdreht die Augen und nickt. "Nich, dass se noch wat rin schmuggeln, ne?"

Ihr Büro ist eigentlich nicht kalt, aber zwischen Festnahme und Abtransport musste ich drei Stunden in der Kälte warten, weil nicht genug Polizeifahrzeuge zur Verfügung standen. Zitternd ziehe ich mich in Zeitlupe aus. Nicht nur, weil das der Beamtin sichtlich unangenehm ist, auch, weil ich damit Zeit für die anderen Festgenommenen herausschlagen kann. Denn die Polizei darf uns hier nur 24 Stunden festhalten, um unsere Identität herauszufinden. Danach braucht es einen richterlichen Beschluss für jede Einzelperson und geeignete Unterbringungsmöglichkeiten für alle 150 Festgenommenen. Schon jetzt ist die kleine Cottbusser Polizeiwache überfüllt. Die Aktivistinnen werden auf den Fluren festgehalten, es gibt nicht genug Matratzen in den Acht-Personen-Zellen und nur eine Toilette für alle Gefangenen.

Es ist mein erstes Mal in Haft. In einem Anflug von Binge-Watching habe ich mir mal alle Staffeln von "Orange is the New Black" am Stück gegeben und mich dabei ziemlich amüsiert. Aber selbst mal in so eine Situation der völligen Fremdbestimmung zu kommen, hätte ich mir nie vorgestellt, und lustig fühlt es sich auch nicht an.

Schon der Weg zur Wache in der engen, plastiküberzogenen Einzelkabine im Polizeitransporter stellt meine normalen Demonstrationserfahrungen deutlich in den Schatten. Ein Vorgeschmack auf die kommenden Stunden. Die Luft im Transporter war stickig, es gab keinen Anschnallgurt und der Fahrer bretterte so schnell über die Lausitzer Landstraßen, dass ich in der grellen Kabine hin und her geschleudert wurde wie in einer Waschmaschine. Während der dreißigminütigen Fahrt kam mein Gedankenkarussell gut in Schwung. Was, wenn sie meine Identität doch herausfinden? Wenn irgendwo im Internet ein Bild von mir kursiert, das zum Abgleich benutzt werden kann? Wenn vor lauter Müdigkeit, Kälte und Hunger einer Freundin mein Name rausrutscht? Wo komme ich jetzt hin? 

Durch die Tür hört man nur gedämpftes Geschrei, die Luft fühlt sich plötzlich viel dicker an

Auf den Tatverdacht könne eine fünfjährige Gefängnisstrafe folgen oder eine Geldstrafe, die ich niemals bezahlen könnte, klärt Sibylle mich auf. Ich sage dazu nichts. So sehr ich mir auch einrede, dass wir viel zu viele sind, um uns alle "erkennungsdienstlich zu behandeln", schaffe ich es kaum, die leichte Panik zu unterdrücken, die sich doch langsam ausbreitet. Am liebsten würde ich mich einfach freundlich von der Polizeibeamtin verabschieden, meine Sachen nehmen und zurück zum Camp fahren. So, wie ich mich im Alltag auch verhalten würde, wenn ich auf eine Situation keine Lust mehr habe. Aber das ist hier nicht drin. Es ist genau dieser Verlust von Selbstbestimmung auf unbestimmte Zeit, der mich panisch werden lässt. So fühlt sich also Freiheitsentzug an.

 

Erst als ich die anderen kohleverschmierten Wanderschuhe vor der Zelle sehe, zu der mich die Polizeibeamtin führt, beruhigt sich mein Bauch ein wenig. Ich werde nicht allein sein. Und vor allem werde ich meine Zelle nicht mit Frauen teilen müssen, die den Schläger-Frauen meiner serienverseuchten Vorstellungskraft entsprechen. Die Zelle fügt sich in meine imaginäre Bilderreihe aber sehr gut ein: weiß gekachelte Wände, Plastikmatten auf dem Boden, durchgängig leuchtendes Neonlicht.

 

Eigentlich hätte ich jetzt Anspruch auf zwei Telefonate. Mit der Rechtshilfe zum Beispiel. Eine vertraute Person würde ich auch gern anrufen. Geht natürlich nicht, weil ich ja anonym bleiben möchte. Geht aber auch nicht, weil die Polizeistation so unterbesetzt ist, dass nicht mal genug Beamte da sind, um uns alle mit ausreichend Wasser zu versorgen, geschweige denn, allen Aktivisten ihre Telefonate zu gewähren. Nach dreimaligem Nachfragen bringt ein Polizist einen Liter Wasser und acht Plastiktassen. Meine unfreiwilligen Zimmernachbarinnen sind schon seit drei Stunden in der Zelle.

Mittlerweile ist es sieben Uhr morgens und draußen füllt sich der Gang noch immer mit Neuankömmlingen. Sie laufen durch die Flure und öffnen die Zellen von außen, damit wir auf die Toilette gehen können. Die Polizisten haben aufgegeben, für Ordnung zu sorgen. Bis zum Schichtwechsel. "Dit is hier keene Klassenfahrt, wir haben das Hausrecht!", brüllt der neue Schichtleiter und verriegelt alle Zellentüren eigenhändig. Schlagartig ist die Stimmung wieder angespannt. Ich habe seit der Festnahme um fünf Uhr am Vortag nichts gegessen außer ein paar Doppelkeksen und fühle mich fiebrig vom Ausharren in der Kälte vor dem Transport. Ich drücke den Panikknopf und frage nach Essen.

 

Ein Sanitäter öffnet die Tür. Wir bekommen jetzt erst mal die Süßigkeiten aus dem Aufenthaltsraum der Polizei. Eine Banane hat er auch dabei. "Wie im Zoo, das erste Äffchen zuerst", sagt er, wirft meiner Nachbarin ein Stück Banane in den Schoß und lacht süffisant. Er scheint amüsiert bis genervt, das Mädchen neben mir fängt an zu weinen. "Das hätten Sie sich ja vorher überlegen können, dass das hier kein Fünf-Sterne-Hotel ist", sagt er noch. Dann geht er.

 

Eine meiner neuen Kumpaninnen beginnt zu meditieren, zwei andere massieren sich gegenseitig die Füße, die junge Frau neben mir steht nervös an der Tür herum. "Vielleicht sollte ich doch einfach sagen, wer ich bin, dann kann ich nach Hause gehen", sagt sie. Während des Verhörs wurde sie mit sehr persönlichen Fragen stark unter Druck gesetzt. Was denn passieren würde, wenn ihre Mutter davon erführe. Ob ihr Freund sie gerade irgendwo vermisse. Sie wirkt verunsichert und atmet hektisch. Es wären jetzt noch zwölf Stunden, bis sie uns gehen lassen müssen, sagt eine andere, aber das Mädchen hat schon den roten Knopf an der Zellentür gedrückt. Keine Reaktion. Mittlerweile hyperventiliert sie und ihr Kopf ist knallrot vom Weinen.

 

Ihre Panik ist ansteckend. Die grelle Zelle wirkt plötzlich viel zu eng für so viele Menschen, durch die Tür hört man nur gedämpftes Geschrei und die Luft fühlt sich plötzlich viel dicker an. Ich versuche, mein Herzrasen zu ignorieren und staple die Gummimatratzen, damit das Mädchen die Füße hochlegen kann.

"War es das wert?"

Nach einer gefühlten Ewigkeit wird die Zelle endlich geöffnet. Der Sanitäter nimmt die Panikattacke nicht ernst. "Was glauben Sie, wie eng die Zellen im richtigen Knast erst sind?", fragt er stattdessen, gibt ihr dann aber doch einen Traubenzucker. Das Mädchen darf im Gang bleiben, ich muss zurück in den Kachelraum. Das Licht ist zu grell zum Schlafen, und immer wieder kommen Polizisten rein und gleichen unsere Gesichter mit denen auf den Fotos ab, die zu Beginn der Festnahme gemacht wurden. Ich könnte jederzeit die nächste sein, die zum Verhör mitgenommen wird. Übernächtigt, hungrig und hustend habe ich keine Ahnung, ob ich so einer Befragung jetzt standhalten könnte.

 

Ich bin in einem unruhigen Halbschlaf, als wieder die Tür aufgeht. Der Flur draußen ist leer. "Sie können jetzt gehen", sagt Sibylle. Ich drehe mich irritiert um, ich bin die Letzte in der Zelle. "Wolln se nich?"

 

Benommen hole ich meine Jacke im Büro ab, das Fahndungsfoto schiebe ich tief in den braunen Papiersack, in dem meine restlichen Habseligkeiten verstaut wurden. Vielleicht wird es irgendwann zu einer guten Erinnerung. "Da war kein Foto", antworte ich auf die Frage, ob da noch meine Unterlagen drin sind. Eine letzte kleine Ordnungswidrigkeit, jetzt wo ich mich in Sicherheit wägen kann und meine Identität hoffentlich nie herauskommen wird.

 

"War es das wert?", fragt der junge Polizist, der uns am Morgen das Wasser gebracht hat, während er mir die Tür aufhält. Draußen höre ich die Samba-Gruppe und lauten Applaus, während ich als eine der letzten das Gebäude verlasse. Mein Tunnelblick geht Richtung Suppentopf, der vor dem Eingang aufgebaut wurde.

 

21 Stunden war die Cottbusser Polizei mit unserer Aufnahme beschäftigt. Währenddessen konnten die Blockaden in der Kohlegrube und auf den Gleisen mangels Personal nicht geräumt werden und das deutsche Stromnetz wurde erstmalig zu 100 Prozent von erneuerbaren Energien abgedeckt. Heute, drei Tage später und wieder ausgeschlafen würde ich die Frage des Polizisten mit "Ja" beantworten.

 

Mehr über die Besetzung des Kraftwerks auf SZ.de.

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