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Die Minimalismus-Lüge

Foto: Tanja Kernweiss

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Von Diogenes, dem antiken Philosophen, der in der Tonne hauste, ist folgende Anekdote überliefert: Passanten sollen ihn dabei beobachtet haben, wie er nicht etwa sie um Spenden anbettelte – sondern Statuen. Natürlich ließ sein Flehen die Steinfiguren vollkommen ungerührt. Natürlich wusste Diogenes das. Den Passanten erklärte er, das Betteln ohne Aussicht auf Erfolg diene ihm als mentales Training: Er wolle sich darin üben, dass ihm Wünsche abgeschlagen werden. 

Ich käme nie auf die Idee, als Verzichtsübung Steinklötze anzubetteln. Im Gegenteil: Manchmal habe ich den Eindruck, dass man mich anfleht, bitte etwas besitzen zu wollen, was ich stoisch wie eine Statue ausschlage. Ein Auto zum Beispiel.

Bei jedem wichtigen Einschnitt in meinem Leben meinten meine Eltern, die Zeit sei nun reif für ein Auto. Als ich zum Studium ausgezogen bin, meinten sie, ich bräuchte eines für Wochenendheimfahrten. Als ich den ersten Job bekam, meinten sie, ohne Auto könne ich doch unmöglich ein voll anerkannter Arbeitnehmer sein. Als ich dann weiterzog in die nächste Stadt, hielten sie den Zeitpunkt für günstig, mir noch einmal die Anschaffung eines Autos ans Herz zu legen.

Es gab immer sehr gute Gründe ­gegen ein Auto: das Semesterticket, der kurze Weg zur Arbeit, der Mietsprinter für den Umzug.

Inzwischen versuchen meine Eltern es eine Nummer kleiner. Bei meinem letzten Geburtstag meinte meine Mutter, ich könnte doch mal einen Fernseher gut gebrauchen, am besten mit großem hochauflösendem Bildschirm. Und ich dachte nur: Wie soll ich so ein Ungetüm denn bitte in einen Umzugskarton bekommen? Ein Notebook mit Netflix-Abo reicht völlig.

78 Prozent der Millennials geben ihr Geld lieber für Erlebnisse aus als für Dinge

Es heißt oft, den Jüngeren sei Besitz nicht mehr so wichtig. Mein Haus, mein Auto, mein Boot? Nö. Vor allem das Auto: Für jeden dritten Deutschen zwischen 18 und 34 sind moderne Smartphones und Computer wichtiger als ein eigener fahr­barer Untersatz, ergab 2015 eine Umfrage des Beratungsunternehmens Prophet. Tendenz steigend. Eine Studie aus den USA stellte fest: 78 Prozent der Millennials geben ihr Geld lieber für Erlebnisse aus als für Dinge. Und weil die Jüngeren sich so ungern eine teure Qualitätswaschmaschine oder einen Geschirrspüler ans Bein binden möchten, hat der Versandhändler Otto kürzlich selbst dafür einen Verleihservice gestartet.

Die ganz Radikalen unserer ­ Generation versuchen, einem amerikanischen Blogger nachzueifern, der vor einigen Jahren dazu aufrief, den Besitz auf 100 Dinge zu reduzieren und damit eine Bewegung lostrat. Seither debattiert die Gemeinde der Minimalisten in ihren Blogs ziemlich ernsthaft darüber, wie wichtig die Zahl 100 ist, ob Schuhe paarweise oder einzeln zu  berechnen sind, ob man seinen Bücher­bestand zur Bibliothek zusammenfassen darf und ob die Dateien, die digitale Nomaden auf ihren Computern mit sich herumschleppen, nicht eigentlich auch mitzählen. Dinge erwerben und behalten ist das neue Rauchen: ein nicht mehr ganz zeit­gemäßer und potenziell schädlicher Lebens­stil, der eher von schwachem Charakter als von Freiheit zeugt.    

Wir lehnen die alten Insignien der Wirtschaftswunderzeit ab und fühlen uns dabei wie die Avantgarde eines befreiten, luftigeren Lebensstils. Vor lauter Fortschrittlichkeitsduseligkeit übersehen wir aber gern den ganz naheliegenden, profanen und ­unedlen Grund für den Verzicht: Wir können uns die alten Statussymbole schlicht nicht leisten.

Es gibt Studien, die zeigen, dass die Entwicklung eher zu unseren Ungunsten verläuft. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat errechnet, dass die Mittelschicht geschrumpft ist – vor allem die Jüngeren rutschen nach unten heraus. 2001 zählten 25 Prozent der 18- bis 29-Jährigen zur Gruppe der Einkommensschwachen, 2013 waren es bereits 31 Prozent. Laut Deutschem Gewerkschaftsbund jobbt über ein Viertel der Beschäftigten unter 35 Jahren in einem sogenannten atypischen ­Arbeitsverhältnis; die Jungen sind dreimal so häufig wie die Älteren von Leiharbeit und Befristung betroffen. Und im aktuellen Jugendbericht der Bundesregierung ist zu lesen: Der Übergang in die ökonomische Selbstständigkeit weite sich „zeitlich deutlich aus, reicht teilweise bis weit in das Erwachsenenalter hinein und ist durch Unsicherheiten und steigende Prekarität von Arbeitsverhältnissen geprägt“. Wir ver­harren nicht aus Coolness im Zustand ver­längerter studentischer Improvisation – sondern weil die Umstände unsicherer für alles Feste und Dauerhafte geworden sind.

 

Es hilft, sich einzureden, dass man Dinge, die man nicht erreichen kann, gar nicht erst haben wollte

 

Kein Wunder also, dass in der Studie zu Autoverzicht jeder Zweite finanzielle Gründe dafür nannte. Bei mir ist es ähnlich: Selbst in den Zeiten, in denen ich mir ein Auto hätte leisten können, hätte ich keines gewollt, weil ich nicht wusste, ob meine finanzielle Lage im nächsten oder übernächsten Jahr auch noch so gut sein würde. Alles ist viel zu prekär für so eine Langzeitanschaffung. Aber zugeben wollte ich das nicht. Stattdessen dozierte ich meinen Eltern­ gegenüber, warum ein Auto heut­zutage längst nicht mehr lebensnotwendig sei. Ist das Selbstbetrug? Vielleicht.

 

Begünstigt wird der Selbstbetrug durch eine Kulturgeschichte, die Besitz­losigkeit als Tugend preist. Da sind die antiken Philosophen, die ohne den Ballast der Dinge glaubten, freier denken zu können. Da sind die mittelalterlichen Bettelorden, die gegenüber dem Prunk der Kirche das wahre gottgefällige Leben für sich beanspruchten. Da sind die Hippies und die Aussteiger, die dem Konsumterror ent­sagen. Da sind die modernen Großstadt-Ökos mit ihrem Mantra des „Weniger ist mehr“. Und immerzu lautet der Subtext: Materialismus ist bäh.

 

Es hilft natürlich gegen Verbitterung, wenn man sich einredet, dass man die Dinge, die man nicht erreichen kann, gar nicht erst haben wollte. Unser vorauseilender Verzicht hat insofern etwas Befreiendes.

 

Der Hamburger Trendforscher Peter Wippermann formuliert es so: „Der alte Statusbegriff war fremdbestimmt.“ Welche Dinge es brauchte, um wer zu sein, darüber bestand gesellschaftlicher Konsens. Rolex, Maßanzug, Urlaub im teuren Hotel. Heute sei der Maßstab hingegen kein kollektiver mehr, sondern ein individueller. Zumindest tun wir so, weil wir den Rolex-Ansprüchen eh nicht gerecht werden können.

 

„Die Individualität ist heute das wichtigste Statussymbol“, erklärt Wippermann. Aber das heißt mitunter auch: Was man als Besitz nicht erlangen kann, muss man durch Inszenierung wettmachen. Also durchstöbern wir die Secondhand­läden nach Klamotten, die originell aus­sehen, aber nicht wie das Sparprogramm, das sie natürlich auch sind. Wir balancieren den schmalen Grat zwischen stonewashed und Altkleidersammlung entlang und müssen höllisch aufpassen, dass das lässig-souveräne Spiel mit den Codes des Understatements nicht abgleitet in etwas, das uns wirklich arm aussehen lassen könnte. Weniger anstrengend ist das nicht unbedingt.

 

Die französischen Sozialwissenschaft­ler Luc Boltanski und Ève Chiapello haben einmal zwei Arten der Kapitalismuskritik unterschieden: die Sozialkritik, die vor ­allem Ausbeutung und Ungerechtigkeit ­anprangert. Und die Künstlerkritik, die von der Hässlichkeit des Kapitalismus genervt ist, von der fehlenden Selbstbestimmung in der Arbeitswelt, dem seelenlosen Konsumzwang und Warenüberfluss. Die Künstlerkritik ist also eine weitere Spielart der Geschichte vom edlen Verzicht. Die ­Sozialkritik ist schmutzig und hat Ruß im Gesicht, die Künstlerkritik ist sexy und sitzt im Szenecafé. Mit ihr setzt man sich viel lieber auseinander.

 

In den vergangenen Jahrzehnten, ­sagen Boltanski und Chiapello, habe der Kapitalismus die beiden Kritiken darum geschickt gegeneinander ausspielen können. Er habe Teile der Künstlerkritik ­aufgegriffen, damit wir die soziale vergessen. Die Arbeitswelt ist inzwischen zum Beispiel vordergründig weniger autoritär. Und als Alternative zum Eigentum steht die Sharing Economy bereit. Dass unser Wirtschaftssystem aber immer noch massive Ungleichheit hervorbringt, übersehen wir bei diesen vermeintlichen Errungen­schaften.

Die Askese nimmt uns die Wut, wo sie manchmal nötig wäre

 

Das zeigt wohl schon das Beispiel von Diogenes. In der Philosophie-geschichte wurde später vermerkt, dass der Statuen­anbettler in seiner Lumpigkeit nur vordergründig subversiv war. Jeder aufkeimende Umsturzgedanke wird von der Lehre der Bedürfnislosigkeit verschluckt. Das ist die andere Seite der Askese, die wir uns vielleicht wieder stärker ins Bewusstsein rufen sollten: Sie nimmt uns die Wut, wo sie ­vielleicht mal nötig wäre.

 

Wir schlucken den nächsten unsi­cheren Sechs-Monats-Vertrag, weil wir ja das günstige Leben im 16-Quadratmeter-­WG-Zimmer schätzen. Wir ziehen bereitwillig mit Uniabschluss quer durch die ­Republik den Jobs hinterher, weil uns die Aussicht auf Freunde in vielen Städten für einen festen Hausrat entschädigt.

 

Und ein noch so unverschämtes Gehalt akzeptieren wir, weil die Anschaffung eines Autos ja ohnehin nicht geplant ist. Wer braucht das schon?

 

Es gibt ja tatsächlich viele gute ­Gründe, sich so einen 1,6 Tonnen schweren Metallklotz bloß nicht ans Bein zu binden. Ein Auto ist hässlich und muss regelmäßig in die Inspektion. Die Luft darin verursacht bei langen Fahrten Kopfschmerzen. Man kann am Steuer weder in Ruhe lesen noch fernsehen noch im ­Internet surfen. Ein Auto macht Lärm, ­verpestet die Umwelt, belastet das Klima und beansprucht Parkflächen, auf denen viel besser Bäume und Blumen wachsen und junge Rehe fröhlich herumhüpfen ­könnten.

 

Aber wirklich befreiend ist der Verzicht doch erst, wenn man weiß, dass man ihn nicht nötig hätte. 

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