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Meine Staatsbürgerschaft ist mein mächtigster Besitz

Illustration: Katharina Bitzl

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Uns bleiben nur 30 Sekunden, um fünf Dinge auszuwählen, die wir mitnehmen wollen. Ich nehme das Smartphone mit, Geld, eine Flasche Wasser und eine Decke. Und meinen Pass, denn ich weiß, dass ich auf der Flucht Grenzen überqueren muss.

Zum Glück müssen wir, eine Gruppe aus US-Amerikanern und Europäern, nicht wirklich fliehen, sondern nehmen an der Ausstellung „Forced from Home“ in Washington und damit an einer Art „Fluchtsimulation“ teil. Unter freiem Himmel hat die Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ eine Fluchtroute nachgebaut: Grenzzäune, ein Boot, Zelte mit Schlafmatten darin, eine mobile Klinik. An vier Stationen der Ausstellung müssen wir jeweils einen der fünf (auf Plastikkarten abgebildeten) Gegenstände abgeben, die wir zu Beginn ausgewählt haben. Denn auf der Flucht verliert man Besitz oder muss damit einen Schlepper oder etwas zu Essen bezahlen. Am Ende sieht sich unsere Führerin die übrig gebliebenen Karten an. Mindestens ein Drittel der 15 Teilnehmer hält noch die mit dem Pass darauf in der Hand. Auch ich habe meine erst an der vorletzten Station abgegeben – zugunsten der Smartphone-Karte. Die Führerin sagt: „Den Pass zu behalten ist eine stark kulturell geprägte Wahl von Ihnen. Die meisten Menschen werfen ihn auf einer echten Flucht als erstes weg.“

An diese Aussage denke ich seitdem oft. Jedes Mal, wenn ich vor einer Reise drei Mal meine Tasche checke, ob der Pass auch wirklich drin ist. Wenn ich ihn am Flughafen fest in der Hand halte, um ihn ja nicht zu verlieren. Wenn ich ihn bei einer Kontrolle vorzeigen muss und er mich dazu berechtigt, meinen aus freien Stücken gewählten Weg fortzusetzen. Ich merke dann: Ich besitze fast nichts, das so wertvoll und so mächtig ist wie mein Pass.

Aber eigentlich ist nicht der Pass an sich wertvoll. Er ist ja nur ein materieller Beleg für den immateriellen Besitz, der dahintersteckt: meine Staatsbürgerschaft. Aber was ist das eigentlich, die Staatsbürgerschaft?

Ich frage Professor Rainer Bauböck, Politikwissenschaftler und Migrationsforscher am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz, nach einer Definition. „Die Staatsbürgerschaft ist ein Rechtsstatus, der von einem Staat zuerkannt wird“, sagt er. Daraus ergebe sich dann eine Art „weltweites Sortiersystem“, mit dem Menschen Staaten zugeordnet werden.

Der Kern dieses System ist es, dass für jeden Menschen auf der Welt ein bestimmter Staat verantwortlich ist, der ihm seine Grundrechte und Schutz garantiert. Theoretisch. Wie viele Staaten dieser Verantwortung nicht nachkommen, sieht man an den extrem hohen Flüchtlingszahlen weltweit. Und insgesamt gibt es innerhalb des Systems extreme Schieflagen, denn die verschiedenen Staatsbürgerschaften sind längst nicht alle gleich viel wert. Rainer Bauböck verdeutlicht das mit zwei Zahlen: „Mit einem deutschen Pass können Sie visumsfrei in 177 Länder einreisen. Mit dem afghanischen nur in 25.“ Diese Ungleichheit wiegt deswegen so schwer, weil unsere Staatsbürgerschaft relativ fest mit uns verbunden ist – sie kann uns nicht einfach weggenommen werden, aber wir werden sie eben auch nicht so leicht los, selbst, wenn wir es wollen. „Die meisten Menschen erwerben eine Staatsbürgerschaft per Geburt und behalten sie ein Leben lang“, sagt Bauböck.

Ich habe die deutsche Staatsbürgerschaft „erworben“, nun „besitze“ ich sie – das klingt nach etwas, das man im Laden bekommt. Das ist natürlich missverständlich. „Die Staatsbürgerschaft ist keine Ware, die gekauft oder verkauft werden kann“, stellt Bauböck klar. Zwar gibt es Staaten, die ihre Staatsbürgerschaft verkaufen. Für die maltesische zum Beispiel zahlt man 650.000 Euro, die der Karibik-Insel Dominica bekommt man, wenn man dort 100.000 US-Dollar investiert. Aber ein „Besitz“ im eigentlichen Sinne wäre sie nur, wenn der Käufer sie dann auch weiterverkaufen könnte. „Wenn es einen freien Markt für Staatsbürgerschaften gäbe, würde ihr Wert rasch verschwinden“, sagt Bauböck. Denn dann müsste sie ja auch nicht mehr von allen Staaten anerkannt werden. Staatsbürgerschaft setzt voraus, dass eine „genuine Bindung“ zwischen Person und Staat besteht – so steht es zumindest in einem Urteil des Internationalen Gerichtshofs aus dem Jahr 1955. Wer in einem Staat lebt und arbeitet oder wer dort geboren wurde oder aufgewachsen ist, der hat eine solche „genuine Bindung“, wer sich einen Pass kauft eher nicht.

Wenn man es so sieht, wird die Bedeutung von „ich besitze die deutsche Staatsbürgerschaft“ fast gleichbedeutend mit „ich bin Deutsche“ – also Staatsbürgerschaft nicht als etwas, das man trägt wie eine Jacke, sondern eher als etwas, das Teil von einem ist. Das fühlt sich für mich problematisch an. Ich denke an US-Präsident Trumps Versuche, Menschen bestimmter Nationalitäten die Einreise in die USA zu verweigern. Die Staatsbürgerschaft soll Menschen schützen,  wird aber leider auch ausgenutzt, um sie zu kategorisieren – zum Beispiel von Trump oder Rassisten aller Couleur. So, als wäre sie doch ein echter „Besitz“, den man sich selbst ausgesucht hat. Und als würde diese Wahl dann etwas darüber sagen, wer man ist.

Radikal weitergedacht würde das bedeuten: Wer seine Staatsbürgerschaft verliert, verliert einen großen Teil seiner selbst. Das ist vielleicht zu weit gedacht, denn immerhin gibt es die allgemeinen Menschenrechte und die gelten selbstverständlich auch für einen Menschen ohne Pass. Aber dennoch verliert dieser Mensch seinen festen Platz im weltweiten Sortiersystem. Er fällt durchs Raster, wird zu einem unmündigen Kind ohne Mutter. „Staatenlos zu sein ist auch heute noch ein Zustand extremer Rechtslosigkeit“, sagt Rainer Bauböck. Und diesen Zustand gibt es nicht nur in Umbruch-Situation wie nach dem Zerfall der Sowjetunion, oder in Krisengebieten wie dem Nahen Osten. Bauböck erklärt mir, dass Staatenlosigkeit auch von stabilen Demokratien erzeugt werden kann – etwa wenn Kinder im Ausland geboren werden und der Herkunftsstaat der Eltern sie darum nicht als Staatsbürger anerkennt, aber das Land, in dem sie geboren wurden, am Abstammungsprinzip festhält. Bauböck nennt als Beispiel die wahre Geschichte von Chloe, 2009 in Belgien geboren: Beide Eltern leben und arbeiten in Brüssel. Ihr Vater ist Kanadier, der aber in Bermuda zur Welt gekommen ist und daher die kanadische Staatsbürgerschaft nicht an im Ausland geborene Kinder weitergeben kann. Ihre Mutter ist Algerierin. Sie kann Chloe ihre Staatsbürgerschaft nicht übertragen, weil sie einen Ausländer geheiratet hat und das Kind im Ausland zur Welt kam. Und in Belgien geborene Kinder werden nicht automatisch Belgier. Chloe war also staatenlos – bis Kanada ihr schließlich doch die Staatsbürgerschaft verliehen hat, obwohl das gesetzlich nicht vorgesehen war. 

Weltstaatenbund und Weltbürgerschaft sind eine Utopie

Zum Schluss frage ich Professor Bauböck, ob es nicht einfacher wäre, wenn es keine Staatsbürgerschaft gäbe. Wenn man sie und damit Rechte und Schutz nicht „erwerben“ müsste und darum auch gar nicht erst verlieren könnte. Wenn immer und überall für alle die gleichen Rechte und Pflichten gelten würden. „Die internationale Staatengemeinschaft kann nicht funktionieren, wenn nicht klar ist, welcher Staat für welchen Menschen verantwortlich ist“, sagt er dazu und wagt noch ein Gedankenspiel: „Wenn sich etwa alle Staaten zu einem Weltbundesstaat zusammenschließen würden, dann wären dessen Bürger automatisch überall dort Staatsbürger, wo sie einen Wohnsitz begründen und würden mit der Auswanderung auch die Staatsbürgerschaft dieses Landes automatisch verlieren.“ Also ungefähr so, wie es im Kleinen innerhalb föderaler Staaten funktioniert: Wenn ich meinen Wohnsitz von Bayern nach Brandenburg verlege, ist Brandenburg ab sofort für mich verantwortlich, ich wähle dort und zahle dort meine Steuern.

Der Weltstaatenbund und die Weltbürgerschaft sind eine Utopie. Das bestehende System aus unabhängigen Staaten und Staatsbürgerschaften wäre allerdings gar nicht so weit von dieser Utopie entfernt, wenn alle Staatsbürgerschaften gleich viel wert wären. Sind sie aber nicht. Meine ist wertvoll und mächtig. Die der Frau aus Nigeria, die ich kürzlich kennengelernt habe, ist es nicht. Weil unser Geburtsort den vielleicht wichtigsten Besitz unseres Lebens bestimmt, haben wir völlig unterschiedliche Chancen und Möglichkeiten.

Ein einziges Mal in meinem Leben habe ich ganz, ganz entfernt ahnen können, wie es wohl sein muss, eine Staatsbürgerschaft zu besitzen, die im weltweiten Sortiersystem wenig wert ist. Im November 2010 stand ich auf dem Weg in den Libanon an der Grenze zwischen Jordanien und Syrien, und der Grenzbeamte weigerte sich, mir ein Transitvisum auszustellen. Ich musste meine Reise abbrechen und umkehren. Damals habe ich mich sehr machtlos gefühlt. Als hätte dieser unfreundliche Mann in Uniform mir nicht nur etwas nicht gegeben, sondern mir auch etwas weggenommen. Mein Recht, mich frei zu bewegen. Und damit auch ein kleines Stück meiner Würde.

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