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Familienabend ohne Schlager? Undenkbar.

Illustration: Lucia Götz

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In meiner Familie wird gerne ferngesehen. So wie unsere Vorfahren gemeinsam um die Feuerstelle saßen, endet jeder Abend bei meinen Eltern mit der Verteilung aller Familienmitglieder auf den wohnzimmerlichen Polstermöbeln, Blick Richtung Fernseher.

Leute in meinem Alter, die nicht müde werden zu erzählen, wie toll es war, ohne Privatfernsehen aufzuwachsen, weil man damals „mit der Familie noch Spieleabende gemacht hat, statt zu glotzen“, mögen unsere Tradition mitleidig belächeln. Ich finde dafür Brettspiele überbewertet und unsere Familienabende ultragemütlich.

Es gibt nur ein Problem: die Programmauswahl. Separat können mein Bruder und ich uns sowohl mit unserer Mutter als auch mit unserem Vater einigen. Mit der einen würden wir Spielfilme sehen, deren Ende wir zwar schon nach fünf Minuten erraten, aber wenn’s was Lustiges oder was fürs Herz ist, stört das ja keinen. Mit unserem Vater wären es eher Tier-, Geschichts- oder Gesellschaftsdokumentationen. Wie langweilig diese auch in der Fernsehzeitung, die immer auf dem Wohnzimmertisch liegt, angekündigt sein mögen, man bleibt ja doch jedes Mal hängen.

Allerdings hat sich irgendein sadistischer Familiengott einen boshaften Scherz erlaubt und entschieden, dass es nur ein Genre gibt, auf das sich meine Eltern sich auch untereinander einigen können. Und das sind – Schlagersendungen.

„Ich bin auch gerne mal spontan / Und heut durchkreuz ich Deinen Plan / He du, leih mir mal dein Ohr / Ich hab’ was ganz Besonderes vor” - Andrea Berg

Für meine Eltern ist das der perfekte Kompromiss: Man kann sich zwischendurch unterhalten, ohne etwas zu verpassen. Wenn meinem Vater zu langweilig wird, kann er auch mal „durchschalten“, was er sehr gerne tut. Außerdem gehen die Lieder ins Ohr, was für die beiden etwas Positives ist.

Die deutschen Programmmacher so: Yay, das können wir. Wahrscheinlich weiß das keiner von euch jetzt-Lesern, weil ihr alle drüber hinwegzappt, aber: Es gibt wirklich nahezu keinen Feiertag, an dem nicht eine abendfüllende Schlagersendung läuft. Das Frühlingsfest der Volksmusik, das Sommerfest der Volksmusik, das Herbstfest der Volksmusik, das Winterfest der Volksmusik, der Silvesterstadl, die große Silvester-Schlagerparty, die große Sternennacht-Show und der absolute Favorit: die Helene-Fischer-Show. Und das sind bei Weitem nicht alle. Als wäre das nicht ausreichend, empfangen meine Eltern seit einigen Jahren auch – Obacht – „Gute Laune TV“. Ja, das ist genauso schlimm, wie es sich anhört. Ein Schlagersender. Schlager 24 Stunden am Tag. UND DER HEISST GUTE LAUNE TV! Das ist ganz ganz schwarzer Humor.

Dabei hatten meine Eltern so gute Voraussetzungen für einen guten Musikgeschmack: Viele der bis heute großartigsten Bands stammen genau aus ihrer Generation. Zu Zeiten von Beatles, Rolling Stones oder The Who waren meine Eltern wahrscheinlich zum ersten Mal verknallt und/oder betrunken. Mein Vater war 25, als The Clash „London Calling“ rausbrachten. Meine Mutter 23, als Ian Curtis Suizid beging. The Smiths, KraftwerkRamones, wie konnte das alles spurlos an ihnen vorübergehen?

 

„Du und die, das geht nie / Das geht nicht mal irgendwie / Einen Mann zum Wahnsinn treiben / Das kann keine so wie sie / Du und die, das geht nie / Lass dich bloß nicht mit ihr ein / Du bist einfach viel zu schade / Um ihr Hampelmann zu sein” - Michelle

 

Ich bin wiederum zeitlich gesehen ein bisschen zurückgeblieben, was meinen Musikgeschmack angeht, genau das hätte unsere Eltern-Kind-Beziehung so magisch machen können. Manchmal fantasiere ich von Abenden vor dem Plattenspieler, auf dem meine Eltern originale Erinnerungsstücke aus den 70ern auflegen. Ich ihnen Bands wie die Libertines vorspiele und sie dann sagen: „Das klingt ja fast wie bei uns früher.“ Stattdessen liege ich auf dem Sofa und versuche an etwas Schönes zu denken, während Florian Silbereisen und Helene Fischer ein Pärchenduett singen. (Wenn diese Beziehung nicht von findigen Managern arrangiert ist, verliere ich meinen Glauben an die Liebe.)

 

Hinzu kommt: Bereits bei der Einschulung stellte man fest, dass ich ein bisschen schlecht höre. Angeborene Schwerhörigkeit, sagten sie. Ich glaube wiederum, ich habe einfach schon im Mutterleib versucht, einen Selbstschutzmechanismus vor dem Musikgeschmack meiner Eltern zu entwickeln. Meine Jugend wurde einfacher, als ich einen eigenen Fernseher bekam und mich in meinem Zimmer vor den abendlichen Schlageroffensiven in Sicherheit bringen konnte. Das könnte ich theoretisch heute immer noch. Und wenn mein Freund an Weihnachten mit zu mir nach Hause kommt, ist das oft auch seine Rettung. Er ist diese Musik einfach nicht gewohnt, da liegt die Toleranzgrenze viel weiter unten.

 

„Denn ohne dich – irgendwie das lohnt sich nicht / Du bist der Captain meiner Seele / Hast mein Schiff – voll im Griff.” - Helene Fischer

 

Weil Abende mit meiner Familie aber mittlerweile aber so selten geworden sind, bleibe ich mit eisernem Willen auf der Couch liegen, solange es nur irgendwie geht. Das ist ein echt großer Liebesbeweis, ich bezweifle, dass meinen Eltern bewusst ist, wie groß. Ich schaue zu, wie Andrea Berg von Tänzern, die halb so alt sind wie sie, choreographisch fragwürdig durch die Gegend gehoben wird. Als die Kelly Family ihr Comeback feiert, schaue ich wirklich nur ganz kurz mal auf Instagram. Selbst, wenn meine Mutter anfängt mitzusingen (das kann sie ungefähr so gut wie ich, also eher schlecht), bleibe ich liegen. Und während Helene Fischer von der Decke einer riesigen Halle abgeseilt wird, frage ich mich, wie das mal wird, wenn ich selbst Kinder habe. Wahrscheinlich zwingen wir sie dann, mit uns die alten Rap-CDs meines Freundes zu hören und Kooks-Konzerte auf YouTube anzuschauen. Während sie sich selbst wundern, wie David Guetta, Avicii und Paul von Dyk so spurlos an uns vorbeigehen konnten. Vielleicht überlegen wir uns das auch nochmal mit den Kindern …

 

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