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„Veganismus allein löst nicht das moralische Dilemma“

Illustration: Katharina Bitzl

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Matthias Wolfschmidt ist Veterinär und stellvertretender Geschäftsführer der NGO "Foodwatch", die sich kritisch mit der Agrar- und Lebensmittelproduktion auseinandersetzt. Sein am Donnerstag erschienenes Buch "Das Schweinesystem - Wie Tiere gequält, Bauern in den Ruin getrieben und Verbraucher getäuscht werden" will belegen, dass jedes dritte Stück Fleisch, das wir essen, von kranken Tieren stammt.

jetzt: Herr Wolfschmidt, gibt’s bei Ihnen auch mal Schweineschnitzel aus der Lidl-Theke?

Matthias Wolfschmidt: Das kommt sicher auch vor. Ich kaufe im Supermarkt und im Bioladen ein, ich bin ein ganz normaler Verbraucher.

Das Problem ist: In Restaurants und bei verarbeiteten Produkten, wie zum Beispiel Wurst, erfährt man über Aufzucht und Haltung des Tieres so gut wie nichts. Auch bei einem Keks im Ökoladen werden Sie keine Informationen darüber bekommen, ob das Huhn, das die Eier dafür gelegt hat, gesund war. Die Analyse von Schlachtbefunden weist allerdings darauf hin, dass ganz grob jedes dritte Tier, das wir essen, in seinem Leben mindestens eine mehr oder weniger schwerwiegende Erkrankung durchlebt hat. Als Verbraucher erfahren wir darüber allerdings nichts.

Warum erfahren wir nichts über die Erkrankungen von Tieren?

Das hat viele Gründe. Der wichtigste ist wohl der fehlende politische Wille. Bisher dachte man, so lange die Tiere zunehmen und die vorgesehene Menge an Eiern oder Milch produzieren, kann es ihnen ja nicht so schlecht gehen. Mittlerweile weiß man aber, dass das nicht stimmt. Viele Tiere haben sogenannte Produktionskrankheiten, weil sie nicht so gehalten werden, wie es ihrer Natur entspräche. Diese Tiere haben Schmerzen, sie erleiden Qualen. Das entspricht nicht unserer Verfassung, in der der Tierschutz ja gesondert verankert ist. Aber so lange die Preise niedrig sind, so die Annahme, ist das Volk zufrieden. Dagegen müssen wir uns verwahren.

Was sind Beispiele für die von Ihnen angesprochenen „Produktionserkrankungen“?

Zum Beispiel Hühner, die sich beinahe „zu Tode legen“. Ihr Körper produziert für die gelegte Menge Eier nicht genügend Calcium, also ziehen sie das aus ihren Knochen bis diese buchstäblich zerbrechen. Schweine mit Lungen- und Gelenkentzündungen von schlechter Luft und harten Böden, in denen sie nicht wühlen können. Und schätzungsweise jede zehnte Milchkuh hat ein entzündetes Euter.

Inwiefern sind diese Erkrankungen für Menschen gefährlich?

Die kranken Teile werden beim Fleisch weggeschnitten, das ist mit einbudgetiert. Bei der Milch werden die Krankheitszellen abzentrifugiert, die Milch wird pasteurisiert. Das spielt also alles für die menschliche Gesundheit keine Rolle. Der Gedanke, dass wir die Tiere trotzdem schützen müssen, fehlt allerdings bislang. Für Betriebe mit stets schlechten Werten bei den Schlachthofbefunden gibt es fast keine Konsequenzen – außer milden Preisabzügen vom Schlachthof. Es gibt nicht mal eine zentrale Datenbank, die deutschlandweit alle Schlachthöfe und alle Ämter miteinander vernetzt und sie miteinander abgleichen lässt, wo welcher Befund gemacht wurde. Das ist ein echter Skandal. Wir bräuchten ein System, das Tiergesundheit systematisch auf jedem Betrieb überwacht.

"Jedes dritte Tier, das wir essen, war oder ist krank"
Illustration: Katharina Bitzl

Ist das Auftreten von Produktionskrankheiten in Öko-Betrieben ähnlich wie in konventioneller Haltung?

Ja, diese Krankheiten treten überall auf. Als ich in den Achtzigerjahren Tiermedizin studierte, haben wir noch geglaubt, dass es den Tieren, wenn wir ihre Haltungsbedingungen verbessern, ihnen mehr Platz und Stroh geben und sie nach draußen gehen können, automatisch gut gehen wird. Aber so war es nicht. Am Ende hängt vieles vom Management eines Betriebes ab – je nachdem, wie gut oder schlecht das jemand macht, sind die Tiere gesund oder krank. Hier müssen wir jetzt weiterdenken.

 

"Allein schon das Wort 'Tierwohl' ist ein Marketing-Begriff. Kein Fachmann würde das verwenden."

 

Sind die Bauern also schuld, wenn die Tiere krank sind?

Bauern tragen eine große Verantwortung, aber sie sind nicht schuld an der Situation. Ich klage sie nicht an, denn sie befinden sich selbst zwischen Baum und Borke. Viele Bauern, die mit ihren Tieren gut umgehen, tun das zum Preis der Selbstausbeutung. Die verarbeitende Industrie bezahlt sie dafür nicht. Im Gegenteil – die hat ein Interesse daran, dass es weiterhin ein Überangebot an Fleisch, Eiern und Milch gibt, denn so kann sie die Produktionspreise niedrig halten. Deshalb ist es der Industrie auch so wichtig, dass keine staatlichen Vorgaben gemacht werden, die zu einer geringeren Fleisch- oder Milchproduktion oder einem geringeren Konsum führen würden.

 

Gleichzeitig versucht die Industrie ja, Dinge zu verbessern. 2014 wurde zum Beispiel das sogenannte „Tierwohl-Label“ eingeführt, bei dem man gegen einen Aufpreis Fleisch aus einer Haltung mit mehr Platz für die Tiere bekommt. Das bezeichnen Sie in Ihrem Buch als „PR-Gag“. Warum?

Allein schon das Wort „Tierwohl“ ist ein Marketing-Begriff. Kein Fachmann würde das verwenden. Ob ein Tier sich wohl fühlt, können wir gar nicht messen. Tiergesundheit hingegen könnte man messen. Auch ob das Tier die für es natürlichen Verhaltensweisen ausüben kann, kann man überprüfen. Stattdessen hat man sich für einen Ansatz mit nicht wissenschaftlich messbaren Kriterien entschieden. Hinzu kommt: Die Ausgaben des Handels sind viel zu gering. Die Summe, die der Handel in das Label - gemessen am Gesamtumsatz -investiert hat, liegt bislang im Promillebereich. Pro Kilo des unter dem Label  „Tierwohl“ produzierten Fleisches bekommt der Bauer vier Cent mehr. Am Ende profitieren davon weder die Bauern, noch die Tiere wirklich. Nur die Handelskonzerne, die sich günstig ein besseres Image verschafft haben – und so verhindern wollen, dass sich durch staatliche Maßnahmen das ganze System ändert.

 

Was könnte der Staat denn tun?

Das Thema Tierschutz gehört auf die gesellschaftliche Agenda. Ich persönlich kann mich allerdings an keine Bundesregierung erinnern, die eine Vision gehabt hätte, wie wir Tiere zukünftig halten wollen. Dabei ist das doch die einzig legitimierbare Perspektive, wenn wir weiterhin Tiere essen wollen: dafür zu sorgen, dass sie gesund sind, nicht leiden und nicht verhaltensgestört werden, weil man ihnen kein artgemäßes Verhalten ermöglicht.

 

Wie könnte diese Vision denn konkret aussehen?

Wir müssen Haltungssysteme installieren, die sich an den Gewohnheiten des Tieres orientieren und sie nicht krank machen. Außenzugang und gutes Klima helfen da viel, aber eben auch ein gutes Management der Betriebe. Außerdem muss man sich von der Vorstellung verabschieden, dass die großen Betriebe automatisch schlecht und die kleinen automatisch gut sind. Das versuche ich in meinem Buch auch aufzuzeigen, aber da sind die Fronten natürlich oft verhärtet. Über kurz oder lang wird es vermutlich auf ein staatliches Tierschutzsiegel hinauslaufen. Ein Gutachten vom wissenschaftlichen Beirat des Agrarministeriums aus dem vergangenen Jahr sieht den Markt für Tierschutzprodukte bei 20 Prozent. Und da fragen wir: Was ist mit den anderen 80 Prozent?

 

 

"So lange die Mehrheit der Gesellschaft für sich in Anspruch nimmt,  Tiere und tierische Produkte zu essen, sind wir verpflichtet, etwas für diese Tiere zu tun"

 

Man geht ja immer davon aus, dass man als Verbraucher den Markt ein bisschen mitsteuern kann. Nun sagen Sie allerdings beim Thema Tiergesundheit gäbe es quasi keine Informationsmöglichkeiten, schreiben aber auch, dass Veganismus und Vegetarismus auch keine Lösung sei. Was wäre denn dann eine?

Das schreibe ich nicht! Ich sage nur: schön und gut, dass es in Deutschland schätzungsweise knapp ein Prozent Veganer und rund zehn Prozent Vegetarier gibt. Aber das ist eine Nische. So lange die Mehrheit der Gesellschaft für sich in Anspruch nimmt, Tiere und tierische Produkte zu essen, sind wir verpflichtet, etwas für diese Tiere zu tun. Vielleicht sind wir irgendwann tatsächlich so weit, dass wir demokratisch entscheiden, zukünftig als Gesellschaft auf tierische Produkte zu verzichten. Ich vermute aber, dass ich diesen Zeitpunkt nicht mehr erleben werde. Bis dahin können wir uns nicht zurücklehnen und darauf warten, dass die Gesellschaft sich ändert. Eine individuelle Konsumentscheidung wie Veganismus oder Vegetarismus alleine löst nicht das moralische Dilemma.

 

Das Fazit Ihres Buches ist, dass Fleisch aus tiergerechter Haltung auf jeden Fall sehr viel teurer sein wird als bisher. Aber gehen wir dann nicht dahin wieder zurück, dass Fleisch zum Luxusgut wird? Wäre das fair?

Dass jeder von allem so viel essen kann, wie er möchte, stabilisiert eine Gesellschaft. Und dass wir es in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg geschafft haben, mehr zu produzieren als benötigt wird, ist eine große Leistung. Ob das so bleiben kann, steht auf einem anderen Blatt. Allein schon ökologisch. Denn es ist doch so: Wenn wir nur 20 Prozent der Tiere tiergerechte Lebensbedingungen ermöglichen und neben deren Fleisch liegt im Supermarkt welches, das gleich schmeckt und qualitativ genauso gut ist, aber nur ein Viertel so viel kostet – für was würden Sie sich dann entscheiden? Deshalb reicht aus meiner Sicht eine freiwillige Verpflichtung zu mehr Tiergesundheit nicht. 

 

Also eine Art Tierschutz-Zwang?

Genau. Es darf keine Wahlfreiheit in Sachen Tierqual geben. Und wenn dann jetzt die Leser sagen: „So einem Mittelklasse-Typ wie dem Wolfschmidt ist doch egal, wenn er mehr für Lebensmittel ausgibt – aber wie soll ich als Student oder Hartz-IV-Empfänger das machen?“ dann antworte ich: Ja, das ist ein wichtiges Thema. Aber ein sozialpolitisches. Dann müssen halt der BAföG-Satz und die Transferleistungen erhöht werden. Wir können es uns als Gesellschaft leisten, dass alle Menschen sich mit tiergerechten Produkten ernähren können. Hingegen zu sagen: „Es gibt so viele arme Leute hier, deshalb müssen die Tiere weiterhin leiden“ - das wäre wirklich zynisch.

 

 

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