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„Hallo, ich bin fett!“, sagt Lindy West

Foto: Jenny Jimenez

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Lindy West ist dick und schaut mich an und sagt: „Vielleicht bist du dünn. Du bist diesen Weg langgewandert und du bist fit und schön und beliebt. Ich bin meilenweit hinter dir und keuche. Aber du hast nicht diesen Körper hier den Berg raufgetragen. Du hast nur dich selbst getragen. Wie schwer würdest du atmen, wenn du mich hättest tragen müssen?“ Und wie sie das so sagt, verschiebt sich in meinem Kopf was. Hin zu dem Gedanken, dass es vielleicht wirklich eine sehr viel größere Leistung ist, einen dicken Körper auf einen Berg zu tragen als einen dünnen. Und dass es vielleicht überhaupt gar keine Leistung ist, einen dünnen Körper zu haben. 

Natürlich schaut Lindy West mich nicht wirklich an und sagt das. Sie hat es in ihrem Buch „Shrill“ geschrieben, das vor acht Wochen in den USA erschienen ist. Lindy West ist Autorin (unter anderem für Jezebel, GQ und den Guardian), Feministin und Aktivistin der Fat-Acceptance-Bewegung, die sich gegen Diskriminierung und Stigmatisierung dicker Menschen einsetzt. In „Shrill“ schreibt sie auch über andere Themen, über Abtreibung und Regelblutungen zum Beispiel, und hier und da geht sie einem höllisch auf die Nerven – aber sie schreibt eben auch auf eine so lustige und trotzdem schlaue Art über Dicksein und Dünnsein und Körperbilder, dass man ab und zu das Gefühl kriegt, man säße gerade vor einer Bühne, auf der sie ein Stand-up-Programm mit der Botschaft „Lass mich halt dick sein und halt dein Maul“ vorträgt.

Das zu lesen hat Dreierlei mit mir gemacht. Erstens habe ich mich beim Lesen immer wieder erwischt gefühlt. Zweitens hat es mir geholfen, Dicksein zu verstehen. Und drittens hat es mir eine irrationale Angst genommen. Und ich glaube, dass es diese drei Sachen auch mit anderen Menschen machen kann, die viel über ihren und über Körper generell nachdenken, egal, ob sie dick oder dünn oder irgendwas dazwischen sind. Weil das Grundproblem, um das es geht, alle Menschen mit einem Körper verbindet: dass zu viel über ihn geurteilt wird.

Ich selbst bin nicht dick. Ich war auch noch nie dick. Ich bin auch nicht besonders dünn. Vermutlich bin ich eine der normalgewichtigsten Personen, die ich kenne. Aber seit dem allerfrühsten Beginn meiner Pubertät habe ich Angst davor, dick zu sein oder dick zu werden. Die Kontrolle über mein Gewicht und damit über meinen Körper zu verlieren. Ich weiß, dass ich nicht die Einzige bin, der das so geht. Vor allem nicht die einzige Frau. 

Als dicker Teenager war Lindy gleichzeitig zu sichtbar und unsichtbar 

Wegen dieser anstrengenden Beziehung zu meinem eigenen Körper bin ich Lindy West gespannt durch ihr Buch gefolgt. Sie erzählt darin, mit welchen Vorurteilen sie als dickes Mädchen und dann als dicke Frau zu kämpfen hatte und hat. Vorurteile, die ich auch kenne, die auch mir vorgelebt und vermittelt wurden und die dafür gesorgt haben, dass ich nicht dick sein wollte. Ich weiß nicht mal, ob ich den Vorurteilen geglaubt habe. Es hat gereicht, zu wissen, dass so über mich geredet, so mit mir umgegangen würde, wäre ich dick. Das verbindet Lindy und mich – mit dem Unterschied, dass es für sie sehr viel schlimmer ist: Über Lindy West wird wirklich so geredet, mit ihr wird wirklich so umgegangen.

„We are horrible to look at, we are in the way, we are a joke“, schreibt sie. Schon die dicken Figuren die ihr als (amerikanisches) Kind in Filmen und im Fernsehen begegneten, waren immer „Mother or Monster“, aber nie Heldinnen: Lady Kluck, die fette Henne und Hofdame im „Robin Hood“-Zeichentrickfilm. Ursula, die böse Meerhexe aus „Arielle“. Madame Pottine, die bauchige Teekannen-Mutter aus „Die Schöne und das Biest“. Immerhin noch Miss Piggy, die war ziemlich selbstbestimmt und nett und cool. Aber halt ein Schwein.

Als Teenager, schreibt Lindy West, habe sie versucht, zu verschwinden, sich klein zu machen, nicht aufzufallen, weil sie einfach viel zu sehr auffiel. Sie war zu sichtbar und unsichtbar zugleich. Sie war auch diejenige, die erst mal keinen Freund abbekam. Später dann fanden die Männer, die mit ihr schliefen, sie zwar attraktiv, aber standen nicht dazu. Sie wollten nicht mit ihr in der Öffentlichkeit gesehen werden, weil sie sich für sie schämten. Sie bringt dann ein Beispiel, das gut erklärt, wie die Wahrnehmung dicker und dünner Menschen sich unterscheidet: Wenn jemand auf einem Stuhl sitzt und er bricht zusammen, wird man annehmen, dass der Stuhl kaputt war. Wenn sie auf einem Stuhl sitzt und er bricht zusammen, wird man annehmen, dass sie Schuld daran ist.

Überhaupt „Schuld“: Dicksein, schreibt Lindy West, sei eben nicht nur ein ästhetisches, sondern auch ein moralisches Problem. Die Menschen tun ja immer so, als sei es ein Fehler, den man berichtigen könne. Sie beschreibt, wie sie versucht hat, abzunehmen und wie es nicht funktionierte. Wie sie das bigotte „Wir sorgen uns ja nur um eure Gesundheit“-Gelaber der Dünnen über die Dicken immer wütender machte. Dass sie außerdem gesund sei, top Blutwerte und alles habe. Und selbst, wenn jemand gesundheitliche Probleme wegen seines Gewichtes haben sollte, gehe das erstens niemanden etwas an – und zweitens führten (und das sei wissenschaftlich belegt) Scham und Schuldgefühle und der daraus resultierende Hass auf den eigenen Körper eher dazu, dass man noch weiter zunimmt. Dieses Dilemma fasst Lindy West in einem der Sätze zusammen, die dieses Buch zu einem sehr guten Buch über Probleme mit dem Körper machen: „You can’t take good care of a thing you hate.“

Obwohl sie selbst dick ist, fiel es ihr schwer, sich Bilder von dicken Menschen anzuschauen

Bei all dem habe ich mich erwischt gefühlt. Bei den Vorurteilen. Bei dem Gesundheits-Gedanken. Gleichzeitig habe ich mitfühlen und verstehen können. Weil Lindy West alles so nachvollziehbar beschreibt, ohne zu jammern, aber auch, weil ich das mit dem Hass auf den Köper ja selbst kenne. Ich war gleichzeitig ihre Gegenspielerin und ihre Leidensgenossin. Und dann verschwesterte sie sich mit mir, ohne Leiden, sondern auf eine positive Art, indem sie erzählt, wie sie den ganzen Gewichtsstress und die Scham losgeworden ist. 

Ein Prozess, den sie in zwei Schritten durchmachte. Erstens: Dicksein vor sich selbst okay finden. Ihren Erweckungsmoment hatte sie, als sie auf die Foto-Serie „Full Body Project“ von Leonard Nimoy (ja, der, der „Spock“ gespielt hat) stieß, mit Bildern von halb- oder ganz nackten, sehr dicken Frauen. Erst war sie entsetzt und empört darüber. Das dürfe man doch so nicht zeigen, dachte sie. Sie musste sich also erst mal an diesen Anblick gewöhnen und das zeigt sehr deutlich, wie negativ Dicksein konnotiert ist und wie wenig es öffentlich positiv oder einfach als „normal“ dargestellt wird: „I had to learn how to look at pictures of fat people, and I am one.“ Ihr Pro-Tipp für „Fat Acceptance“ ist nach dieser Erfahrung denkbar einfach: „Look at pictures of fat women on the internet until they don’t make you uncomfortable anymore.“ Nachdem sie das selbst geschafft hatte, konnte sie weitergehen, bis hin zu dem Punkt, an dem sie ihren Körper schließlich mochte.

Zweitens: sich als fett outen. Vorher lebte sie lange mit dieser seltsamen, aber weit verbreiteten Idee, dass Dicksein zwar schlimm ist, aber etwas weniger schlimm, wenn man es nicht thematisiert. Wenn man sich unter weiten Klamotten versteckt, klein macht und einfach nicht darüber redet. Sie selbst sprach nicht darüber, ihre Familie und Freunde auch nicht. Denn es ist tabu, jemandem zu sagen, er sei dick, es gilt immer als Kritik oder Beleidigung. Alle sehen, wenn jemand dick ist, der Dicke weiß, dass er dick ist, aber alle gemeinsam ignorieren es. Lindy West hat irgendwann entschieden, dass das nicht so sein soll, denn: „You can’t advocate for yourself if you won’t admit what you are.“ Sie hat sich also in die Welt gestellt und gesagt: „Hello, I’m fat.“ Sie sagt bewusst „fett“, sie will die Sache beim Namen nennen, keine Euphemismen, keine Verharmlosungen, einfach: fett. Und sie nennt das Ganze auch wirklich „coming out“. Es ist eben ein Akt, der Mut erfordert. Zu sagen: Das bin ich und ich weiß, dass viele das, was ich bin, nicht gut finden – aber ich leugne das jetzt nicht mehr, weil mich das Leugnen noch viel unglücklicher macht als all euer Hass das jemals könnte. 

Der Körper ist nicht nur die Hülle des wahren Ichs – er ist ein Teil davon

Man merkt an dieser Stelle in „Shrill“, wie aus Lindy West und ihrem Körper, zwei Einzelteilen, auf einmal eins wurde. Sie schreibt: „I am my body. (…) There is not a thin woman inside me, awaiting excavation.“ Das mag ein wenig wohlfeil und betulich klingen. Aber es hat mich, als jemand, der nicht dick ist, aber immerzu Angst davor hat, zuzunehmen, der den eigenen Körper manchmal als etwas empfindet, das nervt und aus dem man raus will, doch gepackt. Diese Einsicht, dass man dieser Körper ist. Dass er nicht nur eine Hülle ist, in der das Wahre Ich steckt, sondern dass er Teil dieses wahren Ichs ist. Dass er so gehört. 

Lindy West schreibt dann noch auf, was an ihrem Körper gut ist. Zum Beispiel, dass er so respekteinflößend ist. Dass sie mit ihm keine Angst haben muss, weil ihre Schultern breit sind und ihre Arme stark. Dass sie Schweres heben und jemand Schwaches beschützen kann. Das klingt gut und zeigt, dass man sich vielleicht öfter mal auf die Vorteile des eigenen Körpers konzentrieren sollte, statt dauernd auf ihn zu schimpfen. Oder, um mit einem ebenfalls wohlfeilen, aber wahren Zitat zu enden, das aus einem ganz anderen Zusammenhang, nämlich aus einem Song der Sängerin Regina Spektor stammt: „I got a perfect body, cause my eyelashes catch my sweat.“ 

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