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Dieser Film soll zeigen, wie sich Depressionen anfühlen

Foto: F32.2

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Im Dezember 2015 klingelt Annelies Telefon. „Ich brauche Hilfe!“, hört sie ihre Freundin Vera weinend sagen. „Ich muss irgendetwas tun!“ Vera ist völlig verzweifelt und hat das Gefühl, so nicht weiterleben zu können. Ein Moment absoluter Hoffnungslosigkeit, wie sie ihn nennt. So beginnt der Film „F32.2". Der Zahlencode stammt aus dem ICD 10, einem internationalen Klassifizierungssystem für Krankheiten. Schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome – das ist die medizinische Diagnose für Veras Verzweiflung.

Was ist das, was Vera so traurig macht? Diese Frage hat sich die 26-jährige Filmemacherin Annelie nach diesem Anruf ihrer Freundin Vera oft gestellt. Das Thema Depression hat sie so sehr beschäftigt, dass sie den Dokumentarfilm „F32.2“ darüber gedreht hat – zusammen mit Vera. Die beiden jungen Frauen haben sich dafür ein klares Ziel gesetzt: Sie wollen den Zustand der Depression für den Zuschauer visuell greifbar machen.

Die beiden lernen sich vor etwa fünf Jahren, während ihres Studiums an der Filmhochschule in München, kennen. Sie verstehen sich auf Anhieb und reisen für ihre Filmprojekte gemeinsam in verschiedene Länder. Doch im Frühjahr 2015 beginnt Vera sich langsam zu verändern. „Ich habe gemerkt, dass sie nicht mehr so konzentriert bei der Sache war. Erst habe ich das auf mich oder auf unser damaliges Projekt bezogen,“ erzählt Annelie. Auch Vera merkt, dass etwas mit ihr nicht stimmt. Jeder neue Tag ist für sie unglaublich anstrengend. „Ich hatte das Gefühl, ich kriege alles nicht mehr hin.“ Vera startet eine ambulante Therapie und beginnt Medikamente gegen die Depressionen zu nehmen. 

„Ich war an dem Punkt: Keiner kann mir helfen"

Bis zu dem Anruf Mitte Dezember ist für Annelie unklar, warum sich ihre Freundin immer mehr isoliert. Heute erklärt Vera: „Es ist ein Teil der Erkrankung, dass man sich immer mehr zurückzieht. Ich hatte starke Schuldgefühle und wollte niemanden belasten.“ Doch an diesem einen Abend fürchtet sich Vera vor sich selbst. „Ich war an dem Punkt: Keiner kann mir helfen. Ich hatte weder das Vertrauen noch die Hoffnung, dass es besser wird.“ In ihrer Hilflosigkeit griff sie zum Hörer. Für Annelie fühlt sich Veras Anruf sogar etwas befreiend an: „Endlich hatte ich das Gefühl, ich konnte was tun!“

Auf der Suche nach einer Möglichkeit diese Nacht zu überstehen, fahren sie zusammen in ein Krankenhaus. Nachdem ein erster Arzt die beiden jungen Frauen abweist, schlägt eine Ärtzin vor, Vera über Nacht in der Klinik zu behalten. Aus diesem einen Tag werden schließlich vier Monate in der Psychiatrie. Die Erinnerung an diese Zeit verschwimmt für Vera. „Manchmal konnte ich mich nicht einmal an meine Besucher erinnern. Ich war wie auf Autopilot.“ Auch Annelie, die Vera in der Klinik besucht und ihr oft schreibt, erkennt ihre Freundin in dieser Zeit kaum wieder. „Du warst irgendwie auf stumm geschalten,“ erinnert sie sich.

 

Von Vera erhofft sich Annelie zunächst eigentlich nur Hilfe bei ihrer Recherche – schließlich soll F32.2 möglichst echt werden. „Kann ich überhaupt einen Film über etwas machen, in das ich mich nicht hinein versetzen kann? Diese Frage habe ich mir immer wieder gestellt“, erzählt Annelie. Einige Zeit später fragt sie Vera, ob sie während des Films im Off ihre selbstgeschriebenen Gedichte vorlesen könnte. „Ich hatte Herzklopfen von einem anderen Stern“, lacht Annelie. „Klar, ich bin auch gerne noch mehr Teil des Ganzen“, entgegnet Vera und in diesem Moment wurden die beiden Freundinnen zu den Hauptdarstellern.

 

„Als sie die Tabletten nicht mehr genommen hat, habe ich gemerkt: Da ist sie wieder“

 

„Es ist ein langer Weg in die Krankheit, aber es ist ein noch längerer Weg wieder hinaus“, sagt Vera. Immer wieder betont sie, wie wichtig es ihr sei, dass ihre Geschichte im Film nicht exemplarisch für die Krankheit Depression stehen soll. Es sei einfach nur ihre Geschichte. „Ich weiß nicht mehr, wer ich bin. Ich weiß nur, wer ich mal war. Lebensfroh, jeden Strohhalm greifend“, erklärt Vera in „F32.2“ ihre innere Leere, während sie mit Straßenkreide auf den Asphalt zeichnet. Erst als sie auf eigenes Risiko die Medikamente absetzt, fühlt sich alles langsam wieder echt an. „Als sie die Tabletten nicht mehr genommen hat, habe ich gemerkt: Da ist sie wieder“, sagt auch Annelie. 

text annelie vera

Die Filmemacherinnen Annelie (links) und Vera (rechts).

Foto: Privat

Im Film arbeiten die beiden mit ihrem Team daran, Veras Gefühlen eine Gestalt zu geben. „Es war klar, dass Vera Bilder dafür finden kann,“ sagt Annelie. Unschärfe, ungewohnte Kameraperspektiven, sorgfältig ausgewählte Musik und Fotos und Videos aus der gemeinsamen Zeit vor der Depression lassen den Zuschauer ganz nah dran sein. Beklemmend ist „F32.2“ aber auch, weil er so intim ist: „Liebe Vera, liebe Annelie...“, beginnen die Szenen abwechselnd. Die Freundinnen lesen sich Briefe vor, die sie sich gegenseitig geschrieben haben. Eine ganz bewusste Entscheidung. „Eine klassische Interviewsituation war nicht möglich. Das hätte eine unnatürliche Distanz zwischen uns geschaffen“, erklärt die 26-Jährige.

 

Dass sie als Hauptdarsteller selbst Filmemacher sind, hat bei dem sensiblen Thema Vorteile. „Es gab immer Fragen, von denen ich dachte, die kann ich ihr im Film nicht stellen. Das ist zu persönlich.“ Doch Vera ermutigte ihre Freundin immer wieder nachzubohren. „Es soll ja schließlich ein guter Film werden“, sagte sie damals ehrgeizig. So beantwortet sie Annelie im Film die Frage, was sie damals in ihrem Abschiedsbrief geschrieben hatte.

 

"Ich bin da ja nicht naiv und unbedarft"

 

Doch manchmal machte es Annelie auch Angst, dass ihre Freundin in diesem Film so viel von sich preisgibt. Vera ist identifizierbar. Was wäre, wenn der Film sie mal in eine schwierige Lage bringt? Auch im Freundes- und Bekanntenkreis sorgten sich manche, ob dieser Film nicht zu intim sei. Doch Vera versichert, dass sie sich immer bewusst war, was sie da tut: „Da ich selbst Filme mache, wusste ich immer, wie das wirkt, was ich antworte. Ich bin da ja nicht naiv und unbedarft.“ Dennoch trafen die beiden daraufhin eine Abmachung: Sollte Vera irgendwann entscheiden, „F32.2“ nicht mehr zeigen zu wollen, werden sie ihn nicht veröffentlichen.

 

Doch noch fühlt sich der Film für Vera und Annelie richtig an. An diesem Wochenende wird „F32.2“ auf dem Dokumentationsfilm-Festival Dok in Leipzig gezeigt. „Für mich ist es auch ein Film über Freundschaft“, sagt Vera bestimmt. Natürlich fragt man sich, wie es der jungen Frau, die im Film so angestrengt und leer wirkt, heute geht. Eigentlich merkt man es ihr aber an. Sie sieht ganz anders aus, viel lebendiger. „Momentan geht es mir sehr gut“, sagt Vera. Kurz nach dem Filmfestival führt ihr Weg ins Flugzeug. Vera dreht in New York ihren eigenen dritten Film – über die positive Seite des Scheiterns. Auch Annelie freut sich auf die kommenden Monate, denn natürlich fliegt sie mit zum Dreh. 

 

„F32.2“ wird am 4. November um 10.30 Uhr im Cinestar 8 und am 5. November um 14 Uhr in der Schaubühne Lindenfels im Rahmen der Leipzig Dok gezeigt. Annelie und Vera werden bei beiden Screenings für ein Gespräch anwesend sein.

 

Anmerkung der Redaktion: Wenn Du Dich selbst von Depressionen oder Suizidgedanken betroffen fühlst, kontaktiere bitte umgehend die Telefonseelsorge oder U25. Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222 gibt es Hilfe von Beratern, die schon in vielen Fällen Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen konnten.

 

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