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2016 war ein Scheißjahr? Blödsinn!

Illustration: Katharina Bitzl

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Ich bin ein Außenseiter. Ich hatte ein gutes Jahr. Und um mich herum scheinen alle ein sehr schlechtes Jahr gehabt zu haben. Es werden Blog-Artikel geteilt, in denen Blogger erzählen, warum 2016 nicht nur weltpolitisch sondern auch privat eine einzige Katastrophe und das schlimmste Jahr überhaupt für sie war. Es werden GIFs geliket, die „2016 in a nutshell“ heißen und eine Aneinanderreihung von Pannen und Missgeschicken darstellen. Twitter-Hashtags namens #ThingsThatShouldBeLeftIn2016 werden fleißig befüllt. Ein Meme fragte schon Mitte des Jahres: „2016 Y U no end soon?“

Fast will man schon zum Hörer greifen und jemanden anrufen. „Hallo, gibt es ganzheitlich schlechte Jahre? Und wenn ja, warum?“ Nur: Man fände ja keinen seriösen Gesprächspartner. Denn was sollte der schon sagen? „Ja, es muss etwas falsch sein mit diesem 2016. Eine dunkle Wolke hängt drüber, ein Fluch, eine schlechte Sternenkonstellation. Warten Sie nur ab bis zum 31.12.16, wenn die Uhr 0 schlägt und aus der 6 am Ende eine 7 wird, ist wieder alles im Lot.“ 

Ich will kein Spielverderber sein. Ich weiß, dass der Mensch Etappen und Rhythmen braucht. Dass er „Endlich Wochenende“ stöhnen will und „Scheiß Montag“ und „Im nächsten Jahr wird alles besser“. Sowas räumt einen auf. Es erleichtert es, Schuld zu verteilen. Keiner hält es aus, dass etwas rätselhaft oder bedrückend ist, oder dass etwas Schlimmes passiert und niemand etwas dafür kann oder einem sagt, wann das aufhört. Wenn 2016 schuld ist, ist das doppelt gut, weil erstens ist 2016 eh so schön abstrakt und zweitens geht 2016 vorbei und dann ist alles wieder gut.

Nur weiß ja jeder, der älter ist als zwölf, dass nach Silvester nur ein neuer Tag kommt und dann noch einer und noch einer und aus diesem Übergang von einem Tag auf den nächsten auch keine echte, irgendwie bedeutsamere, die Dinge endgültig voneinander abkapselnde „Schwelle“ wird, nur weil genau 365 Tage vergangen sind, man ein bisschen Blei gießt, Raketen abschießt und im Fernseher einen alten Mann über einen Tigerkopf stolpern sieht.

Wie die Besessenen tanzen die Leute um den Scheiterhaufen herum, auf dem unter Hassparolen das arme 2016 verbrannt wird

Aber allernorts wird völlig ernsthaft so getan, als wäre dem so. Wie die Besessenen tanzen die Leute um den Scheiterhaufen herum, auf dem unter Hassparolen das arme 2016 verbrannt wird. Jeder will noch was reinwerfen. Terror, Trump, Krieg, und: Hier, mein gestorbener Opa! Scheiß 2016! Hier mein verunglücktes Meerschweinchen, 2016, du Arschloch. Und was sollte das überhaupt, als ich mal gestolpert bin und mir das Bein verstaucht hab’? Und dann das mit dem kaputten Auto und dem Job, wo ich Scheiße gebaut habe? Und dem ausgereizten Dispo und der verunglückten Maniküre? Fuck, jetzt ist mir der Kaffee runtergefallen, zur Hölle mit dir 2016!

Wichtig bei alldem: Ich will nicht schönreden, dass Schlimmes in der Welt passiert. Ich will niemandem den Schmerz über einen persönlichen Schicksalsschlag absprechen. Ich möchte nicht, dass der Populismus weiter erstarkt. Dass Trump Präsident der USA ist. Dass Krieg und Terror wüten, ganz egal auf welchem Kontinent. Dass geniale Künstler sterben. Dass überhaupt jemand stirbt oder erkrankt, der jemandem etwas bedeutet.

Vieles ist sehr schlimm. Aber das war schon immer so. Schon vor dem dem 1. Januar 2016

Vieles ist sehr schlimm. Aber das war schon immer so. Schon vor dem dem 1. Januar 2016. Dass es so scheint, als sei die Welt noch nie so furchtbar gewesen wie jetzt, liegt im Fokus des Betrachters.

Man weiß das, oder sollte es wissen. Angesichts des flächendeckenden Gejammers über 2016 traut man sich aber trotzdem kaum noch zu sagen, dass es einem grad ganz gut geht. Man hört den Mob schon wüten: „Du Schwein, wie kann es dir gutgehen, wenn es allen so schlecht geht? Du musst blind sein! Gefühlskalt!“

Und das ist falsch. Denn wer so redet, stilisiert sich etwas zu gern zum handlungsunfähigen Opfer äußerer Umstände. Das ist verlockend, klar. Gerade, wenn es privat auch grad nicht so läuft. „Je unglücklicher jemand ist, desto besser tut ihm das Unglück der Welt, wenn er es lüstern beobachten kann“, sagte Dr. Hans-Joachim Maaz im Sommer bereits meinem Kollegen Friedemann Karig, als der in einem Essay die Frage erforschte, ob die Welt wirklich „durchdrehe“.

Maaz war überzeugt: „Negative Nachrichten laufen auch deshalb besser als positive, weil uns dieses Außenelend von unserem Innenelend ablenkt. Wir alle haben irgendwann eine narzisstische Kränkung erlebt. Und die lässt uns heute nach äußeren Gründen für unsere Unsicherheit suchen.“ 

Auch ist nachgewiesen: An schlimme Erlebnisse erinnert man sich eindrücklicher, als an gute. Man denkt über Unangenehmes schlicht länger und intensiver nach als über Gutes. Über einen verlorenen 50-Euro-Schein ärgert man sich in der Summe mehr, als man sich über einen gefundenen freut.

Auf die Gesamtsituation bezogen: Sich auf die Suche nach dem zu machen, was 2016 gut war, was überhaupt in den vergangenen paar Jahren weltpolitisch und privat alles gut war, ist halt etwas anstrengender und weniger gemeinschaftsstiftend, als sich einfach in den Jammerchor der anderen einzureihen.

Und damit behandeln wir 2016 übertrieben schlecht. Um mit einem vielleicht etwas schiefen, aber doch anschaulichen Vergleich zu enden: Wäre 2016 eine Frau, homosexuell, queer oder schwarz, und wir würden derart grob reden, dann wäre was los. Da gäbe es längst einen Aufschrei. Unter Hashtags wie #prayfor2016, #2016is2016, #accept2016, #ilovemy2016, #2016isbeautiful #ayearisjustayear würde der Mob für einen toleranteren und reflektierteren Umgang mit dem armen Jahr plädieren. Kann man auch mal drüber nachdenken.

Man kann aber auch einfach warten, bis 2017 ist. Und die Probleme auch nicht weniger werden. Hashtag #suckit #itscalledlife #whosaiditwasgonnabeeasy.

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