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Revolutionärin der Friedhöfe

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Die Februarsonne scheint durchs Fenster, der Kaffee dampft und Catlin sitzt im ärmellosen Kleid am Tisch und sagt: „Ich will verwesen!“ Mit mehr als 1,80 Meter, ihren leuchtenden grünen Augen, der tiefen, lauten Stimme und viel Mimik, viel Gestik ist sie derzeit zwar komplett unverwest und das pure Leben – aber dieses Leben widmet sie eben der Suche nach dem guten Tod. „Ich möchte Teil des natürlichen Kreislaufs sein“, sagt die unverweste Caitlin, „denn ich esse tierische Produkte und konsumiere natürliche Ressourcen. Was für eine Hybris wäre es da zu sagen: ‚Mich kriegt ihr nicht! Wenn ich sterbe, will ich in einen versiegelten Sarg gelegt oder verbrannt werden!’“

Caitlin Doughty ist 31 Jahre alt und Bestatterin. Am Vorabend hat sie in einem Anatomie-Hörsaal der Berliner Charité ihr Buch vorgestellt, das im vergangenen Jahr in den USA erschienen ist, dort zum Bestseller wurde und mittlerweile in neun Sprachen übersetzt wurde. Es heißt „Fragen Sie Ihren Bestatter. Lektionen aus dem Krematorium“ (C.H. Beck) und ist eine Mischung aus Autobiographie und Sachbuch über den Tod. Caitlin, aufgewachsen auf Hawaii und mittlerweile in Los Angeles Zuhause, schreibt darin zum einen sehr unterhaltsam über ihren Job. Wieso sie sich mit Anfang 20 für eine Ausbildung im Krematorium entschieden hat, wie diese ablief ist und was sie gelernt hat. Warum man dicke Menschen am Morgen als erstes verbrennt, wie ihr wegen einer Panne im Krematoriumsofen mal heißes Menschenfett aufs Kleid spritzte und wie sie Babyleichen im Dutzend aus der Kühlkammer abholen musste. Zum anderen vollzieht sie auf der Grundlage gründlicher Recherche nach, wie sich Bestattungen im Laufe der Geschichte verändert haben und wie man in anderen Kulturen mit Toten umgeht. 

Wer seiner toten Großmutter selbst Lippenstift auftragen möchte, kann das bei Caitlin tun. 

Das alles wird zusammengehalten von ihrer Mission: Den Menschen ihre Toten und damit den Tod an sich wieder näher zu bringen. Denn in der westlichen Welt, sagt Caitlin, leben wir in einer „Kultur der Todesverweigerung“. Leichen werden vor uns versteckt (wer hat schon mal eine gesehen?) und dann für viel Geld beerdigt oder zu Dumping-Preisen im Krematorium entsorgt. Und weil wir den Tod aus unserem Leben ausschließen, haben wir Angst vor ihm. Caitlin will, dass wir ihn wieder reinlassen. Dass wir uns entspannen und sagen: Der Tod gehört zum Leben dazu. Oder es sogar wie Kafka sehen: „Der Sinn des Lebens besteht darin, dass es endet.“

Das Buch ist nur ein Baustein ihrer Mission. Auf ihrem (sehr lustigen!) Youtube-Kanal „Ask a Mortitian“ beantwortet Caitlin schon seit 2011 Fragen rund um das Sterben und ihren Job (Ist das wirklich die Asche meiner Mutter? Was passiert beim Kremieren mit Brustimplantaten? Wie soll ich mit meinen Kindern über den Tod sprechen?). Unter dem Namen „The Order of the Good Death“ leitet sie ein Forum für Bestatter, Künstler und Akademiker, die sich über das Thema austauschen. Und in ihrem vor sechs Monaten eröffneten Bestattungsunternehmen „Undertaking L.A.“ bietet sie Familien an, bei jedem Schritt einer Beisetzung selbst mitzuwirken. Wer den Leichnam seines besten Freundes selbst waschen möchte, kann das tun. Wer seiner toten Großmutter Lippenstift auftragen möchte, kann das tun. Wer das Grab des Vaters ausheben möchte, kann das tun. Die britische Zeitung Independent nennt Caitlin: „Champion der alternativen Bestattungsindustrie“. 

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Der Begriff „alternativ“ und die Sache mit dem „natürlichen Kreislauf“, das klingt alles ein bisschen nach Hippie. Oder Hipster. Nach diesem Trend zur Natürlichkeit und zum Selbermachen. Alle wollen ja jetzt alles wieder anfassen und spüren und sehen. Sie stricken sich selbst Pullover, bauen Gemüse an, wollen dem Schwein in die Augen sehen, bevor sie es essen, und ihre Kinder zur Welt bringen, in dem sie sich im Geburtshaus an Seile hängen und schreien. „Ja, auf jeden Fall ist das, was ich mache, Teil dieses Trends“, sagt Caitlin, und zwar mit einer Selbstverständlichkeit, die jede negative Wertung sofort plattmacht. „Die Leute sind es einfach leid, dass große Firmen alles übernehmen und vorschreiben, was man früher selbst gemacht hat und selbst bestimmen konnte.“ In Caitlins Heimat, den USA, ist dieser Backlash noch extremer als in Europa, weil eben auch die Konzerne größer und mächtiger sind. Auch in der Bestattungsbranche: SCI, Service Corporation International, ist ein milliardenschweres Unternehmen mit Hauptsitz in Texas. Es betreibt mehr als 1500 Bestattungsunternehmen und 400 Friedhöfe in 43 US-Staaten sowie in Kanada und Puerto Rico. 

 

Caitlin will mit ihrem Unternehmen weg von dieser anonymen, industrialisierten Form des Bestattens. Eine traditionelle Beerdigung kann in den USA, wo auch das aufwändige Einbalsamieren und Aufbahren üblich ist, bis zu 10.000 Dollar kosten. Viele Menschen sehen darin die reine Profitgier. Um das Vertrauen der Kunden in die Branche zurückzugewinnen, soll „Undertaking L.A.“ non-profit sein: Caitlin und ihre Mitarbeiter bekommen ein normales Gehalt, und alles, was sie darüber hinaus erwirtschaften, fließt zurück in die Firma und in Extra-Angebote wie Workshops. Bisher läuft es für Caitlin gut mit der neuen Firma. Es freut sie, wie schnell die Menschen sich an einen Toten herantrauen, wenn man sie nur lässt: „Oft sagen Kunden, dass sie nur zuschauen wollen, wie wir den Leichnam zurechtmachen. Dann sehen sie, wie wir ihrer Oma Lippenstift auftragen und sagen: ‚Halt, so würde sie es nicht machen, lassen Sie mich mal’ – und plötzlich lackieren sie auch die Nägel und machen die Haare.“

 

Caitlin sagt, die Arbeit mit Toten sei auch ein "feministischer Akt" 

 

Man kann sich gut vorstellen, wie Caitlin einen durch den Trauerprozess führt. Einem zeigt, wie man eine Leiche wäscht, und übernimmt, wenn man überfordert ist. Sie ist ein fröhlicher, humorvoller, aber auch einnehmender und warmer Mensch. Jemand, von dem man gerne fest in den Arm genommen werden möchte, wenn man traurig ist, weil dann das Energielevel sicher schnell wieder steigt. Und sie ist, und das spielt in ihrem Job eben auch eine Rolle: eine Frau. Die ihre Weiblichkeit betont, mit langen, schwarz gefärbten Haaren, auffälligem Vintage-Schmuck und bunten Kleidern (sie trage, sagt sie, „nie Hosen“). Einer Reporterin des New Yorker sagte sie, die Arbeit mit toten Körpern sei für sie eine Art „feministischer Akt“. Jetzt in Berlin erklärt sie, wie sie das meint: „Früher war es in Familien und Gemeinden Aufgabe der Frauen, sich um die Toten zu kümmern. Dann entstand die Bestattungsindustrie. Männer haben den Job übernommen – und wurden dafür bezahlt.“ In den vergangenen 100 Jahren haben solche Männer hart dafür gearbeitet, dass Bestatter als Job anerkannt wird, für den man bestimmte Fähigkeiten braucht. Und dann kommt eine Caitlin Doughty und sagt: Jeder kann sich um Tote kümmern, jeder kann ihnen nah sein.

Dafür musste sie sich kritisieren lassen, zum Beispiel in ihrem Youtube-Kanal und nicht selten mit Verweis darauf, dass sie als Frau nicht für die Arbeit am Leichnam gemacht sei. „Ich bin also nicht nur eine junge Frau, was für manche eh schon ein Problem ist, sondern sage ihnen auch noch, dass ihr Job nicht so wichtig ist, wie sie denken. Das macht sie natürlich sauer und kratzt an ihrem Ego.“ Caitlin ist aber längst nicht mehr allein als junge Frau unter männlichen Bestattern. Die Branche wird weiblicher. Die Reporterin des New Yorker hat an Caitlins Kühlschrank zwei Fotos entdeckt: zwei Abschlussklassen des California College of Mortuary Science, an dem auch Caitlin nach ihrer Ausbildung im Krematorium studiert hat, um noch tiefer in das Fach einzusteigen. Die Abschlussklasse von 1973 bestand aus 44 Männern und zwei Frauen. Caitlins Klasse von 2010 aus 22 Frauen und neun Männern.

 

Kritik an Caitlins alternativen Bestattungsmethoden und ihrem Kampf für einen natürlicheren Umgang mit Toten gibt es aber nicht nur von Männern. „Manche Leute beklagen sich bei mir: ‚Sag mir nicht, was mit meinem toten Körper passieren soll! Ich kann das selbst entscheiden.’ Aber genau das wünsche ich mir ja auch. Nur gerade kann man diese Entscheidung eben nicht selbst treffen.“ 

„Es ist ein schöner Gedanke, dass ich, würde ich morgen sterben, hier in Berlin in einem Friedwald beerdigt werden könnte.“

 

Caitlin will also niemandem sagen: „Es ist falsch, wenn du deine Mutter einäschern lässt!“ Sie will dafür sorgen, dass man mehr Auswahl hat als traditionelle Beerdigung und Einäscherung. Dass sich die Branche öffnet. Dass junge Menschen mit neuen Ideen für den guten Tod diese diskutieren und umsetzen. Damit man sich, zum Beispiel, dafür entscheiden kann, nach dem Tod einfach in der Natur zu verwesen. Aber auch, damit der Tod nicht mehr vor uns versteckt und uns unsere Trauer nicht mehr weggenommen wird. Damit wir die Hand eines lieben Menschen, der gerade gestorben ist, ohne Angst halten können und die Zeit haben, zu verstehen, was da gerade passiert ist und passiert.

 

Caitlin beschreibt in ihrem Buch, wie sie mit ihrem Kollegen eine Leiche abholt, eine alte Dame mit dichtem, weißen Haar, deren Angehörige sie selbst gewaschen und mit frischen Blumen geschmückt haben – und wie sie nach der Hand dieser Dame greift: „Sie war kälter als die eines lebenden Menschen, aber wärmer als ein bloßer Gegenstand.“ In diesem Satz stecken Trauer, Schönheit, Leben, Tod, Vergänglichkeit. Aber eines ganz sicher nicht: Angst.

 

Caitlin sitzt immer noch am Fenster im hellen Berliner Morgenlicht und denkt über ihre eigene Vergänglichkeit nach. „Es ist ein schöner Gedanke, dass ich, würde ich morgen sterben, hier in Berlin in einem Friedwald beerdigt werden könnte.“ Ist sie also bereit, morgen zu sterben? „Ich bin vorbereitet“, sagte sie, „Menschen wissen, was mit meiner Leiche passieren soll und haben alle meine Passwörter. Aber bereit bin ich nicht. Ich habe hier noch so viel zu tun. Meine Arbeit für einen guten Tod hat doch gerade erst begonnen!“ 

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