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Jungs, was macht #MeToo mit euch?

Foto: time./photocase, Collage: Daniela Rudolf

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Liebe Jungs,

die Flut der #MeToo Bekenntnisse stellt uns vor eine einfache, aber gleichzeitig auch sehr schwierige Rechnung: Bei all den Berichten von sexuellen Übergriffen, die da gerade unsere Timelines fluten, müsste es da nicht mindestens halb so viele #wasme-Geständnisse eurerseits geben? Wenn fast jede von uns schon belästigt wurde, müsste sich nicht jeder zweite von euch ertappt, beschämt oder beklemmt fühlen, weil er selbst schon mal die ein oder andere Grenze überschritten hat? Oder weil er tatenlos daneben saß, wenn sowas passiert ist?

Über eure Haltung zu diesem Thema findet man in den sozialen Netzwerken bisher wenig. Wenn ich mir die Kommentare unter den Posts anschaue, fällt auf, dass Männer kaum kommentieren. Ein „Ja, scheiße. Das tut mir leid für dich“, habe ich noch nicht gelesen. Es ist, als wäret ihr in eine Schockstarre verfallen. Als hättet ihr das Gefühl, Anteilnahme stünde euch nicht zu. Als hättet ihr Angst, Position zu beziehen und dabei noch mehr Schaden anzurichten. Oder als wüsstet ihr noch nicht, wie ihr mit #MeToo umgehen sollt.

Bei der Masse an unangenehmen Erfahrungen, die da gerade ans Licht gebracht werden, ist es unmöglich, sich nicht zu verhalten. Wenn wir diese oft sehr intimen Geschichten mit euch teilen, dann ist das ein großer Vertrauensbeweis. Und natürlich tun wir das, weil wir nicht allein damit sein wollen. Gleichzeitig erwarten wir von euch eine Reaktion. Das kann Einfühlungsvermögen und Verständnis, Wut oder Überforderung sein. In Gesprächen zwischen zwei Personen kommt es in der Regel auch zu so einem Austausch. #MeToo ist irgendwie schwieriger. Weil wir Mädchen davon alle betroffen und ihr Jungs damit potenziell alle gemeint seid.

Klar, es gibt auch Jungs, die selbst sexuelle Gewalt erfahren haben und das unter dem gleichen Hashtag teilen. Oder diejenigen, die jetzt unter #HowIWillChange reumütig ihre Fehlpässe auflisten und unendlichen Support versprechen. Die Erfinderin des #MeToo-Hashtags, Tarana Burke, gibt sogar ganz konkrete Handlungsanweisungen, was ihr tun könnt, um etwas zu verändern. Sie anzunehmen, wäre eine Möglichkeit, damit umzugehen, und sie wäre sicher nicht verkehrt. Aber räumt sie dieses unangenehme Gefühl aus der Welt, zu den potenziell übergriffigen 50 Prozent der Weltbevölkerung zu gehören? Ganz generell: Was macht das mit euch? Ist #MeToo Thema in Männerrunden oder verändert es sonst irgendwie euren Alltag? Und seid ihr genauso wütend wie wir?

Eure Mädchen

Die Jungsantwort:

jungsantwort

Illustration: Katharina Bitzl

Liebe Mädchen,

 

ich könnte nun behaupten, dass wir momentan sehr oft zusammensitzen und überlegen, wie wir euch künftig ein Leben frei von ekligen Anmachen, Übergriffen, Vergewaltigungen, Erniedrigungen und all den anderen  von uns begangenen Widerlichkeiten  ermöglichen könnten. Ich könnte davon erzählen, wie die sehr die #MeToo-Geschichten uns  schockieren und zum Nachdenken darüber bringen, was wir an uns und anderen Männern ändern wollen. Wie sehr wir uns dabei selbst infrage gestellt haben. Ich würde mir wünschen, euch all das in eine aufrichtige Jungsantwort schreiben zu können.

 

Es wäre aber nicht die Wahrheit. Unter anderem, weil diese Antwort ja immer noch ansatzweise repräsentativ für unser Geschlecht stehen soll. Klar, beim aufgeklärteren, feministischeren Teil von uns löst das schon Fragen aus. Habe ich selbst schon einmal in einer Situation die Klappe gehalten, wo ich etwas hätte tun müssen? Habe ich weggesehen, wenn Frauen belästigt wurden, weil es bequemer war? Habe ich herablassend über Frauen geredet und damit dazu beigetragen, dass in unserer Gesellschaft ein Klima herrscht, in dem Sexisten mit ihrem Sexismus durchkommen? Habe ich vielleicht selbst mal die Grenze zwischen ambitioniertem Anbaggern und Belästigen nicht mehr klar vor Augen gehabt?

 

Solche Gedanken gab es in den letzten Tagen garantiert bei einigen von uns. Aber sind sie abends beim Bier ein Thema? Nein. Denn beim Großteil von uns sieht es in puncto Feminismus und Gleichberechtigung nach wie vor düster aus. Sehr düster. Ihr wollt einen Einblick? Hier mal der Versuch einer Bestandsaufnahme der Weinstein-me-too-Kiste aus männlicher Sicht:

 

Für die meisten von uns befinden sich eure Erlebnisse trotz ihrer Masse und Eindringlichkeit leider nicht einen Deut näher an der eigenen Lebensrealität als Weinsteins Villa in Hollywood. Sehen wir ein einzelnes „#MeToo“ in unserer Timeline, denkt ein Großteil von uns „wird irgendwas halb so Wildes gewesen sein, Hand am Hintern im Club oder so, sicher nicht auf Weinstein-Niveau“. Man kann die Alltäglichkeit sexueller Übergriffe skandalisieren, sich empören. Oder sie eben als Alltag begreifen, was bequemer ist. Der Großteil von uns tut Zweiteres.

 

Handelt es sich um eine einigermaßen detaillierte Geschichte, zum Beispiel von einem masturbierenden Typen auf dem Heimweg oder vom fummelnden Chef, schockt uns das schon. Aber den gedanklichen Transfer hin zu unserem eigenen Umfeld, oder sogar zu uns selbst, den sparen sich die meisten leider lieber. Der Sexisten-Chef, der Masturbierer, der Vergewaltiger – das sind Freaks, Opfer, Einzelfälle. Und nicht die durchschnittlichen oder modernen Männer, im Umgang mit euch immer korrekt und richtig tolle Gentlemen. Und ab und an tanzt halt mal noch einer aus der Reihe. Ein gesamtgesellschaftliches Problem sehen die wenigsten von uns – obwohl es ja eigentlich sonnenklar ist, dass die von dir beschriebene Rechnung nicht aufgeht.

 

Und weil es am leichtesten ist, an sich selbst nichts zu bemängeln und uns auch niemand so wirklich dazu zwingt, Stellung zu beziehen, kommen wir damit durch. Und die Weinstein-Sache schafft es in durchschnittliche Männer-Runden noch am ehesten über schlechte Witzchen. Wie vor ihm Cosby, R. Kelly, Berlusconi, Strauss-Kahn oder Polanski wird ein „Schwerenöter“ wie Weinstein den lauten Typen in der Bar und den „politisch herrlich unkorrekten“ Comedians dieser Nation über Jahre Futter geben. Die meisten dieser Witze werden zwar nicht nur Weinstein, sondern höchstwahrscheinlich auch seine vermeintlichen „Sex-Opfer“ (Trendbegriff für „vergewaltigte Frau“) auf die Schippe nehmen, aber sei's drum. War doch nur ein Scheeeherz, Bunga, Bunga!

 

Ihr meint, man kann sich nicht nicht zur momentanen Debatte verhalten? Wir beweisen euch das Gegenteil.

 

Soweit also die traurige Bestandsaufnahme. Die Gründe für dieses de facto vollkommen ignorante Verhalten könnten und müssten Romane, TV-Talks und Zeitungs-Dossiers füllen. Was vielen von euch mit dem Feminismus gelungen ist – ein offenes, tabubefreites Ansprechen von Problemen, Schieflagen, Widerlichkeiten, das Infragestellen der eigenen Rolle – davon sind wir leider noch weit entfernt.

 

Trotz der lauter werdenden Kritik von eurer Seite halten viele von uns noch am guten alten Patriarchat fest, klammern sich ängstlich an alte Rollenbilder und beschweren sich im Rahmen von #MeToo lieber, dass wir bald keine Frau mehr angraben dürfen, weil die ja ach so sensibel geworden sind. Tief in uns spüren wir zwar, dass wir diese Schiene nicht ewig weiterfahren können, dass uns dieses Verhalten auf Dauer selbst nicht glücklich machen wird, dass wir in anderen Zeiten leben. Aber darüber reden? Ist den meisten viel zu schwierig. Denn wer wie wir noch nicht mal imstande ist, die Frage „Geht es dir gut?“ ehrlich zu beantworten, wird sich mit Dingen wie Schuld oder Scham umso schwerer tun.

 

Wir haben also noch viel zu lernen. Und jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, damit endlich mal anzufangen.

 

Eure Jungs

 

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