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Wer heute noch mit Doktortiteln angibt, macht sich lächerlich

Foto: frau l/photocase

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Drei Dinge, fast zeitgleich passiert, sind der Anlass für diesen Text. Erstens: Eine ältere Person, mit der ich verwandt bin, hat in einem Restaurant einen Tisch reserviert und am Telefon den Doktortitel vor dem Nachnamen genannt. Eine Geste, die ich nicht nur sinnfrei, sondern vor allem peinlich fand. Zweitens: Eine Medizin studierende Freundin hat mir erzählt, dass ihr ursprüngliches Doktorarbeitsthema ihre wissenschaftliche Kompetenz überfordert und sie deshalb nun eine andere schreibt. Bei einem über familiäre Bande bekannten Arzt, der ihr eine dermaßen gute Vorlage gibt, dass sie quasi keine Eigenleistung mehr erbringen muss. Was ihr aber keineswegs peinlich ist, da sie behauptet, jeder wisse, dass es beim Doktortitel in der Medizin selten um das Forschungsinteresse des Doktoranden geht. Drittens: In den Zeitungen steht wieder etwas von Doktorarbeits-Plagiat, diesmal traf es die medizinische Promotion der aktuellen Sicherheitsministerin Von der Leyen.

Alle drei Punkte vermitteln den Eindruck, dass ein Doktortitel insgesamt doch wenig über die wirkliche Kompetenz einer Person aussagt. Und meist dort eingesetzt wird, wo die fachliche Kompetenz, die er suggerieren soll, nicht gefordert ist – womit er endgültig zur hohlen Plakette verkommt. Klar: Doktorarbeiten können sinnvoll sein. Ernsthafte Forschung bringt die Wissenschaft voran. Dafür muss man ihr dankbar sein. Aber braucht sie dafür den Doktortitel? Viele sagen: nein. Immer wieder wird deshalb für die Abschaffung des Doktortitels plädiert.

Die ewige Überidentifikation mit dem Doktortitel gilt heute als Charakterschwäche

Interessant ist aber, dass er trotz Fortexistenz längst seinen gesellschaftlichen Glanz verloren hat. Zumindest in der gerade jungen Generation. Während es bei unseren Vorgängern immer noch Menschen wie den verwandten Tischreservierer gibt, die den Doktortitel zur Schau stellen, um dadurch irgendeine zweifelhafte Art von Erhabenheit zu demonstrieren, gilt genau das bei uns heute als fürchterlich peinlich. Unvorstellbar, dass ein gleichaltriger, promovierter Freund oder Bekannter in Hotels, Restaurants oder bei außerberuflichen Handelsgeschäften seinen Doktortitel fallen ließe. Man würde ihn auslachen. Mehr noch. Man würde an seiner charakterlichen Kredibilität zweifeln. Man würde sich fragen: Was ist mit dem Lurch? Warum hat der diese Wichtigtuerei nötig? Und, fast noch tragischer: Warum glaubt der arme Trottel, sie würde funktionieren? Nach welchen Werten lebt der? Für wie dämlich hält er die Leute?

Die ewige Überidentifikation mit dem Doktortitel gilt heute also als Charakterschwäche. Das ist natürlich sehr Generation-Y-haft: Die klassischen Karrierewege weichen auf, es gibt heute in fast jeder Branche mehr Quereinsteiger als noch zu Zeiten vergangener Generationen. Alte Hierarchien fallen in sich zusammen. „Status“, im herkömmlichen Sinne, interessiert wenige. Die Sehnsucht nach Sinnhaftigkeit hat den Begriff selbst weitestgehend verdrängt. Kaum ein Studiengang und Berufszweig gilt heute noch als per se prestigeträchtig. Applaus bekommen eher Selfmade-Identitäten. Menschen, die krumme Wege gehen, Menschen, die Geschichten vom Rumprobieren, Scheitern und Durchwursteln zu erzählen haben. Sie sind längst angesehener als Menschen, die sich „nur“ ganz gradaus durch Fleiß und Ausdauer in etablierten Berufen nach oben gearbeitet haben. Motto: Streber sein kann jeder, mutig sein nicht. Während sich in vorherigen Generationen ein Autodidakt eher des Blendertums verdächtig gemacht hat als ein Gelehrter, ist es heute beinahe andersherum.

Dilettanten: die Heroen unserer Tage?

Das kann man jetzt positiv oder negativ sehen. Es gibt Soziologen, die von einem Verfall der Leistungsgesellschaft der Nachkriegsjahre sprechen, in der es noch galt, etwas von Grund auf zu beherrschen und es folglich durch profunde Kompetenz zum Erfolg zu bringen. Die heutige Gesellschaft hingegen sei nur mehr eine reine Erfolgsgesellschaft. Wie es der Einzelne zum Erfolg bringe, sei egal. Ob durch Glück, Mut, Pech, Zufall, ob durch Hochstapelei oder die Wahl des Weges des geringsten Widerstands: völlig uninteressant. Prestige und Anerkennung gebe es nicht mehr primär dafür, dass jemand sein Handwerk beherrsche, sondern schlichtweg dafür, dass er es halt irgendwie zum Erfolg gebracht habe.

Was, klar, auch die Gefahr birgt, dass Dilettanten ihre Anhänger in einer Tour blenden. „Die Dilettanten sind die Heroen unserer Tage, die Helden einer leistungsmüden Gesellschaft“, schreibt zum Beispiel Thomas Rietzschel, Autor des Buches „Die Stunde der Dilettanten. Wie wir uns verschaukeln lassen“. Klingt düster. Könnte aber was dran sein.

Sind wir also auch nicht klüger? Weil wir uns zwar von Doktortiteln weniger, dafür aber auf andere Weise sogar mehr blenden lassen? Weil angebliche Selfmade-Könner jetzt unsere Doktoren sind?

Denn der bröckelnde Glanz des Doktortitels beweist immerhin ein wachsendes Bewusstsein dafür, dass man Kompetenz nicht institutionalisieren kann

Ja und nein. Mit ein bisschen mehr Gewicht auf dem Nein. Denn der bröckelnde Glanz des Doktortitels beweist immerhin ein wachsendes Bewusstsein dafür, dass man Kompetenz nicht institutionalisieren kann. Blender gibt es überall und immer. Ob mit Titel oder ohne. Ob unter Ärzten, Politikern, Bankern, Künstlern oder Silicon-Valley-Nerds. Und wenn es wirklich so sein sollte, dass es heute mehr von ihnen gibt als je zuvor, ist es ja konstruktiv gedacht umso wichtiger, danach zu fragen, wie man echte Kompetenz überhaupt noch erkennt und vor allem, wie man sie in Zukunft mess- und vergleichbar machen soll.

 

Dass weder olle Siegel noch öffentlicher Beifall dabei verlässliche Faktoren darstellen können, ist dafür doch schon mal nicht die schlechteste Erkenntnis.

 

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