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Von der Liebe zu kaputten Alltagsgegenständen

Illustration: Katharina Bitzl, Foto: dpa

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Die logische Reaktion, wenn ich einen kaputten Kugelschreiber erwische, wäre: ärgern, wegschmeißen. Bei mir sieht sie so aus: ärgern. Und dann zurück in die Stiftebox stecken. Als würde der Kuli sich dort von selbst wieder auffüllen. Tut er natürlich nicht, und eigentlich sollte er auf Nimmerwiederschreiben im Mülleimer landen. Stattdessen wartet er darauf, mir wieder in die Hände zu fallen – und das Spiel beginnt von Neuem. 

Es ist eine bizarre Angewohnheit, Sachen aufzuheben, die eigentlich ausgedient haben. Verkratzte DVDs. Löchrige Sneaker. Ein einzelner Ohrring. Warum mache ich das? Und warum machen es so viele andere?

Vielleicht, weil hinter diesem Messytum und der Faulheit auszumisten auch immer ein kleines bisschen Liebe steckt: zu den Gegenständen, die zwar ihren Nutzen verloren haben, nicht aber die Erinnerungen, die sie für uns bergen. 

Selbstgebrannte CDs zum Beispiel. Vor zig Jahren in mühseliger Arbeit zusammen gestellt, in der es noch kein Youtube, Spotify oder iTunes gab. In der ich mich durch Raubkopie-Grauzonen schlich auf der Suche nach den Liedern, die ich unbedingt auf der Party meines 15. Geburtstags hören wollte. Auf der einst glänzenden Oberfläche habe ich das Datum der Feiern festgehalten. Oder es sind Namen darauf zu lesen, weil ich den nittlerweile abgenutzten Rohling von einer besten Freundin geschenkt bekommen habe. Selbst, wenn nur noch die ersten drei Songs ohne Fehlerknacksen abgespielt werden können – die CD darf trotzdem bei mir im Regal bleiben. Als verstummte Hüterin des Soundtracks vergangener Zeiten.

In meinem Zimmer gibt es diese persönlichen Schätze noch haufenweise. Blockzettel etwa, vollgekritzelt mit heimlich geführten Konversationen während des Unterrichts. Mit To-Do-Listen, Gedankenfetzen, Zitaten und schlechten Zeichnungen. Und ausgemalten Vierecken, jedes davon ein Symbol für eine weitere, vergangene Minute der qualvoll langen Schulstunde. Die Zettel sind die Tagebucheintragungen, die ich aus Faulheit nie geschrieben habe. Sie sind ein Nachhall von Lebensabschnitten und den darin enthaltenen Menschen und Überzeugungen, die ich ohne deren Verschriftlichung schon längst vergessen hätte.

Vom Staub- zum Erinnerungsfänger

Klar, solche nutzlos gewordenen Alltagsgegenstände sind auch platzverschwenderisch. Sie machen einen Raum chaotischer, staubiger. Aus dem Grund hat Zeit-Kolumnist Michael Allmaier einen Entrümpler bestellt – um die Masse an Büchern zu reduzieren. Allmaier schreibt, dass er seine Bücher liebe. Sie hätten ihn dahin gebracht, wo er heute sei, er habe sie mit Bedacht ausgewählt. Die Fehlkäufe, die sich dann und wann einschlichen, hätten aber auch bleiben dürfen. Bis er gemerkt habe, wie wertlos sie heute sind: "Vor zehn Jahren zahlten Antiquariate einem vielleicht ein Viertel des Neupreises; und selbst auf dem Flohmarkt waren noch ein, zwei Euro pro Band drin. Heute stehen neben den Hausmülltonnen 'Bitte mitnehmen'-Schachteln, aber niemand greift zu." Also hat Allmaier ausgemistet. Mit Einschränkungen jedoch: "Aber nicht das hier; das war ein Geschenk. Das auch nicht; da steht eine Widmung drin."

So ist das mit den Staubfängern. Sie sind eben auch Erinnerungsfänger. Für die einen Preis zu bestimmen? Unmöglich. Sie wegzuwerfen? Ebenfalls undenkbar. 

Vielleicht ist der kaputte Kugelschreiber die kleinste Form der Durchhalteparole

Anders natürlich die Kugelschreiber. Von denen ich mir einen unüberschaubaren Vorrat zurecht gelegt habe, weil ich weiß, dass ihnen nur eine bestimmte Schreibzeit innewohnt. Mit Nostalgie ist da nichts.

Und trotzdem schmeiße ich die schreibunfähig gewordenen Hülsen nie weg. Wohl wegen des Irrglaubens, dass Kugelschreiber wieder funktionieren würden, wenn man sie nur lange genug durch Reanimations-Kritzeln wiederbelebt. Und weil es ja sein könnte, dass er morgen wieder schreibt. Vielleicht erholt er sich ja? Vielleicht ist heute nur die Luftfeuchtigkeit zu niedrig oder irgendeine andere Variable macht die idealen Lebensbedingungen des Kugelschreibers heute suboptimal. Vielleicht lassen sich später durch ein bisschen Zuwendung – der richtige Schreibwinkel und etwas Spucke – noch ein paar Zeilen heraus pressen. Und vielleicht ist also der kaputte Kugelschreiber einfach die kleinste Form der Durchhalteparole und des An-sich-und-das-Gute-Glaubens. Die kleinste Ausprägung des Alles-wird-Gut-Denkens. 

So betrachtet ist das Aufheben eines kaputten Kugelschreibers natürlich was ganz anderes als das die Gewohnheit des Nostalgiesammelns. Aber seine Berechtigung hat es damit schon auch.

Dieser Text erschien erstmals am 01.03.2016.

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