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Wann man Konflikte annehmen sollte

Foto: Jeannine Jirak / photocase

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Vor Kurzem hat Freundin R. Mut bewiesen. Sie hatte sich, einer Schutzmauer gleich, zwischen uns und dem Gekeife einer wütenden Nachbarin aufgebaut. Es wurde sehr laut, es wurde mit der Polizei gedroht. Und Freundin R. gab trotzdem nicht klein bei. Das mag unspektakulär klingen. Mich hat R.s Einsteiger-Heldenpose aber sehr beeindruckt. Weil ich mal wieder gemerkt habe, dass man sich öfter trauen sollte, zu widersprechen. Einen Konflikt anzunehmen. Und dass dieser Mini-Mut das Zusammenleben ungemein erleichtern kann.

Der Hintergrund zur Wut der Nachbarin ging so: Wir spielen in einer Band, sollten in ein paar Tagen auftreten und mussten also proben. Wegen ein paar Unwichtigkeiten taten wir das mit Akustikgitarren ausnahmsweise auf R.s Balkon. Der geht auf einen Innenhof hinaus, welcher von vier Wohnblöcken umfasst wird. Und wenn man da "Echo" hineinruft, kriegt man das zwar schon wieder zurück. Aber in Kleinformat. Mickrig und verkrüppelt und kaum eines genauen Hinhörens wert. Und eben das sah die Nachbarin anders und streckte also nach dem ungefähr dritten Song ihren Kopf aus dem Küchenfenster und ließ uns wissen: "Hört's gefälligst auf mit dem Lärm, sonst ruf ich die Polizei!" Und da wir sie anfangs nicht über das Gekreische der auf dem Rasen spielenden Kinder hinweg verstanden, musste sie es ein paar Mal rufen und wurde dabei sehr zornig.

Überbleibsel aus der Kindheit

Ich bin auf dem Dorf aufgewachsen. Von klein auf wurde mir und meinen Schwestern eingebläut: "Seid nett und höflich zu älteren Menschen!" Nur, weil der Herr Huber auf der Straße kleine Zwerge keines Blickes würdigte, hieß das nicht, dass man deswegen ebenso ignorant vorbeilaufen durfte. Älteren Menschen solle man mit Respekt und Höflichkeit und Geduld begegnen, hieß es. Und ich finde das eigentlich auch ganz richtig. Aber so eine Erziehung kann einen eben auch hemmen. Und hier, sage ich im Rückblick, hemmte sie mich.

Ganz richtig finde ich nämlich auch, was R. zur Nachbarin sagte. Ganz meinem erzieherischen Duktus erlegen, äußerte ich nach der Drohung der alten Dame sofort kleinlaut den Vorschlag des Rückzugs. Doch R. meinte: "Nein. Auf keinen Fall. Die beschwert sich nämlich sogar dann, wenn man hier draußen sitzt und einfach nur redet." Und sie blieb ganz ruhig und gelassen, als sie sich der Nachbarin zuwandte und sagte: "Es ist Nachmittag und nicht nach 22 Uhr. Ich habe diese Wohnung gemietet, genauso den Balkon. Ich kann ihn also nutzen, wenn ich will. Wenn es Ihnen zu laut ist, machen Sie doch bitte das Fenster zu."

Während sich in meinem Kopf sämtliche Benimmregeln meiner Kindheit empörten, konnte ich nur eines tun: R. bewundern. Denn durch ihre Standhaftigkeit baute sie sich nicht nur schützend vor unserer Band auf – sondern auch vor dem, was uns verbindet, was uns Spaß macht und uns unfassbar wichtig ist: Musik zu machen. Obwohl die Nachbarin dann noch weiterschimpfte, blieb R. freundlich – aber standhaft. Und das Durchhaltevermögen meiner Freundin zeigte Wirkung: Nachdem wir einfach wieder angefangen hatten zu spielen, verschwand die Frau letztendlich in ihrer Wohnung.

Man könnte jetzt natürlich auch denken: Vielleicht war unsere Musik so schlecht, dass es das Beste für alle gewesen wäre, unsere Instrumente zu beschlagnahmen. Aber während wir weiterspielten, setzten sich andere Nachbarn an ihre Fenster, mit Büchern oder Smartphones in der Hand, und hörten zu. Offensichtlich taten sie es gern. Mein schlechtes Gewissen jedoch nagte noch eine Zeit lang weiter an mir und ich fragte mich, ob wir nicht doch mehr Rücksicht hätten nehmen sollen?

Das Recht auf Lebendigkeit

Bis ich mich an eine der „Gewissenfrage“ erinnerte, die Rainer Erlinger jede Woche im SZ-Magazin beantwortet. Vor Kurzem wollte da jemand wissen, ob man einem mit offenem Mund kauenden Sitznachbarn bei einer mehrstündigen Fernbusfahrt sagen dürfe, er solle doch seinen Kaugummi bitte hinter geschlossenen Lippen bearbeiten. Erlinger findet: Ja. Durch die erzwungene Nähe sei es okay, in die Freiheit des anderen einzugreifen: "Man muss sich zurücknehmen, auch Dinge unterlassen, die man sonst tun dürfte, und sein Handeln so gestalten, dass andere möglichst wenig beeinträchtigt werden."

Die eingeforderte Rücksichtnahme sei jedoch nur in Ordnung, weil sie aus einer Ausnahmesituation mit extremer Nähe entspringe. Für alle anderen alltäglichen Zusammenstöße gelte das nicht. "Man muss aushalten, dass es andere Menschen um einen herum gibt, dass sie lebendig sind", schreibt Erlinger und resümiert: "Wer das nicht erträgt, muss als Einsiedler leben."

Nun ist es in der Stadt schwierig, ein Einsiedlerdasein zu führen. Man ist zwangsweise in das Leben der anderen miteingebunden. Man bekommt mit, wenn das Kleinkind nebenan die ersten Zähne kriegt oder der Nachbar einen neuen Freund hat. Dann jedes Mal in die Privatsphäre anderer einzugreifen wäre Gift für ein harmonisches Zusammenleben. Man würde andere dazu zwingen, sich unterzuordnen, statt miteinander zu leben.

Nachdem wir uns also dazu entschlossen hatten, zu unserer Lebendigkeit zu stehen und unsere Bandprobe fortzusetzen, sah ich, dass auch die Nachbarin nach draußen gekommen war. Sie stellte einen Stuhl auf, versteckt hinter einem Baum. Und sie schien sich beruhigt zu haben. Und mit ihr endgültig mein schlechtes Gewissen. Im Leben bekommt man eben nicht immer Applaus für das, was man tut. Aber wegen Kritik das aufzugeben, was man wirklich gerne macht, ist auch keine Lösung. Denn: So wie das, was man macht, nicht immer etwas ist, was allen gefällt, ist auch nicht jede Kritik grundsätzlich etwas, was wert ist, gehört zu werden.

Unsere Bandprobe endete ohne weitere Zwischenfälle. Der einzige Lärm, der danach noch im Innenhof übrig war, das Lachen und Kreischen der spielenden Kinder. 

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