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Frauen bekommen erst dann Macht, wenn der Karren im Dreck steckt

Collage: Katharina Bitzl; Foto: dpa

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Andrea Nahles ist seit Mittwoch Fraktionsvorsitzende und damit die erste Frau in der 150-jährigen Geschichte der SPD auf dem Posten. Damit hat Nahles die Spitze der Partei und ihr Ziel erreicht, auf das sie schon seit Jahrzehnten hingearbeitet hat.

Die Nachricht von der Berufung Nahles’ wurde allgemein wohlwollend aufgenommen. Endlich wird mal eine Frau rangelassen, auch im Jahr 2017 noch ein kleines Wunder, noch dazu bei der SPD, so der Tenor. 

Doch bei genauerem Hinsehen bleibt ein schales Gefühl zurück, weil einem dieses  Postenbesetzungs-Manöver irgendwoher unheimlich bekannt vorkommt: Scheinbar bekommt immer dann eine Frau eine Chance, sich an der Spitze zu beweisen, wenn der Karren so richtig tief im Dreck steckt. Und  der SPD-Karren steckt, da sind sich alle einig, seit Sonntag so tief im Dreck, dass er kaum mehr manövrierfähig ist, nachdem die Partei das schlechteste Wahlergebnis in der Nachkriegsgeschichte eingefahren hat. 

Zuletzt konnte man dieses Phänomen zum Beispiel in Großbritannien beobachten, wo David Cameron das Land und seine Partei mit dem Brexit-Votum in die schlimmste Krise seit dem Kriegsende geführt hatte. Wer durfte da ran, als so gar niemand weiterwusste oder wollte? Theresa May.

Es gibt unzählige weitere Beispiele dieser Art: Als der isländische Staat zusammenzubrechen drohte und das System kurz vor dem Kollaps stand, wurde erstmals in der Geschichte Islands eine Frau zur Premierministerin gewählt - Jóhanna Sigurðardóttir.

Als die Finanzkrise die Welt ins Wanken brachte, wurde ein ganzer Schwarm von Frauen an die vorderste Front gespült: Mit Mary Schapiro wurde erstmals eine Frau an die Spitze der Börsenaufsicht gewählt. Nachdem Dominique Strauss-Kahn wegen mehrerer Sexaffären und einer Vergewaltigungsklage zurückgetreten war, wurde 2011 Christine Lagarde seine Nachfolgerin als Chefin beim Internationalen Währungsfonds (IWF). Als die litauische Währung abstürzte, wurde Dalia Grybauskaite 2009 als erste Frau Präsidentin des baltischen Staates. Und nicht zu vergessen: Auch der Aufstieg der ewigen Kanzlerin Angela Merkel konnte erst in dem Moment gelingen, als Helmut Kohl mit der Spendenaffäre die CDU in eine Schockstarre versetzt hatte und alle Spitzenmänner der CDU sich entweder gegenseitig blockierten oder selbst in den Skandal verwickelt waren.  

Das Phänomen lässt sich aber nicht nur in der Politik, sondern immer wieder auch in der freien Wirtschaft beobachten: Als der Internet-Konzern Yahoo kurz vor dem Aus stand, wurde Marissa Mayer zur Chefin und Retterin ernannt. Als 2001 der Kopiermaschienenhersteller Xerox knapp vor dem Konkurs stand, weil der Konzern die Digitalisierung komplett verschlafen hatte, wurde ebenfalls eine Frau berufen: Anne M. Mulcahy wurde Chefin und schaffte es, das Unternehmen neu zu positionieren.

 

Das Phänomen hat einen Namen: „glass cliff“

 

Frauen immer dann großzügig nach oben durchzuwinken, wenn alles zu spät ist, ist tatsächlich so geläufig, dass es seit einigen Jahren sogar einen eigenen Namen hat: Die Wissenschaftler Michelle Ryan und Alex Haslam von der britischen Universität Exeter haben nachgewiesen, dass Frauen überproportional häufig auf schwierige Posten gesetzt werden, bei denen die Gefahr des Scheiterns viel höher ist. Sie haben für das Phänomen den Namen „glass cliff“, also gläsernes Kliff, geprägt. Nach dieser Erkenntnis kommen Frauen vor allem dann in Führungspositionen, wenn die klassische männliche „Elite“ nicht mehr weiterweiß und die Gefahr eines Scheiterns einer Führungsfigur am größten ist.

 

Es gibt mehrere Theorien, warum das so ist: Ryan und Haslam glauben, dass Frauen besondere Kompetenz nachgesagt wird, Unternehmen mit unzufriedenen Mitarbeitern zu führen. Denn Frauen werden als besonders mütterlich, kreativ und intuitiv wahrgenommen – lauter Eigenschaften, mit denen man in schwierigen Situationen besonders gut voran kommt. Doch Ryan und Haslam glauben auch, dass Frauen sich einfach besonders gut als Sündenböcke eignen. Die Psychologie-Professorin der University of Houston Kristin Anderson hat dagegen die provokante These aufgestellt, Unternehmen würden vor allem deshalb Frauen in solchen Situationen an die Macht lassen, weil sie so viel einfacher ersetzbar und bessere Sündenböcke sind als Männer. Viele Firmen würden nach dem Schema vorgehen, weil sie sicher sein können: Sollte dieser Versuch schief gehen, hätten sie keine wertvollen Mitarbeiter verbrannt und könnten noch dazu die Schuld einer offensichtlich unfähigen Frau in die Schuhe schieben. Sollte die Frau wider Erwarten Erfolg haben, könnte sich das Unternehmen hingegen aufgrund seiner fortschrittlichen Unternehmenskultur und Diversity-Strategie öffentlich selbst gratulieren. Eine Frau den Karren aus dem Dreck ziehen zu lassen, erscheint aus dieser Perspektive als echte Win-Win-Strategie.  

 

Jetzt kann man sich natürlich fragen, warum Frauen überhaupt bereit sind, sich auf so eine Schleudersitzposition zu begeben. Das liegt laut Ryan und Haslam daran, dass Frauen oft nicht die nötigen Insider-Informationen zur Hand haben, mit denen sie wissen könnten, wie riskant die Position ist, die ihnen da angeboten wird. Und selbst wenn sie wissen, welches Risiko sie eingehen werden – und bei Andrea Nahles kann man damit rechnen, dass sie sehr genau weiß, worauf sie sich einlässt – den meisten Frauen ist klar, dass solche Trouble-Shooter-Jobs fast immer ihre einzige Chance sind, ihr Können zu beweisen.

 

Man kann nun also der SPD dazu gratulieren, dass sie es nach 150 Jahren Männerwirtschaft geschafft hat, eine Frau zur Fraktionsvorsitzenden zu wählen. Man kann sich aber ehrlich gesagt auch mindestens ein bisschen wundern, dass zum einen so eine Entscheidung im Jahr 2017 immer noch einer Gratulation wert zu sein scheint. Und sich nicht nur ein bisschen, sondern sogar ziemlich darüber ärgern, dass eine fähige Frau wie Andrea Nahles erst dann rangelassen wurde, als alle anderen den Karren in den Dreck gefahren hatten. 

 

Und dann kann man sich noch fragen, ob Nahles sich lange an der Parteispitze halten können wird und gar mit einer Kanzlerkandidatur belohnt wird, sollte sie den SPD-Karren wieder flott kriegen. Oder ob dann nicht womöglich doch wieder ein Mann aus der Deckung kommt, der Vorsitzenden mit warmen Worten dankt und von da an wieder übernimmt.

 

Keine schöne Vorstellung, aber unrealistisch ist sie nicht. 

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