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Die wirklich schlauen Fragen stellen die jungen Menschen

Screenshot: ARD Mediathek/Youtube; Collage Janina Schmidt

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Das palästinensische Flüchtlingsmädchen Reem erzählte Merkel im Bürgerdialog von ihrem Schicksal und der drohenden Abschiebung ihrer Familie. Sie begann zu weinen und Merkel hatte keine Chance mehr, die Situation zu retten. Das war im Juli 2015, nur weniger Monate später öffnete Merkel die Grenzen für tausende Flüchtlinge. Ulli Köppe, 28, fragte die Kanzlerin im Brigitte-Live-Talk, wann er seinen Freund seinen Ehemann nennen könne und löste damit eine politischen Debatte aus, die letztendlich zum Beschluss der „Ehe für alle” führte.

Es scheinen die jungen Menschen zu sein, die den Politikern in Fragerunden oder Live-Sendungen die schlauen, kritischen und manchmal auch frechen Fragen stellen. Es sind Fragen, die Berufspolitiker aus der Fassung bringen können – selbst eine Merkel, an deren Lotus-Oberfläche solche Dinge normalerweise abperlen. Sie setzen die Impulse für wichtige zukünftige Entscheidungen und befördern ein Umdenken in der Politik.

Die Wahlarena mit Angela Merkel am Montagabend in der ARD. Die Themen: Rente, Umweltschutz, Einwanderung – nichts davon ist super aufregend, nichts davon ist noch nicht besprochen worden. Deutlich aufregender sind die Gäste, genauer gesagt: die jungen Gäste. Sie stellen an diesem Abend die wirklich wichtigen Fragen.

Ein kreisrundes Studio, in der Mitte Angela Merkel und die Moderatoren Sonia Seymour Mikich und Andreas Cichowicz. Um sie herum sitzen rund 150 Wahlberechtigte, die der Kanzlerin Fragen stellen dürfen. Gleich die erste Frage wird einem „jungen Menschen” zuteil. Diese Tatsache wird von der Moderatorin besonders betont. Oh, ein junger Mensch! Er meldet sich! Schnell, nehmen wir ihn dran, bevor er den Arm wieder herunter nimmt, bevor er seine Frage wieder vergisst! Es scheint ältere Menschen noch immer zu verwundern, wenn sich junge Menschen für gesellschaftspolitische Themen interessieren und sich zu ihnen äußern wollen.

Der „junge Mensch” fragt, wie er bei der Wahl für die Kanzlerin stimmen könne. In Bayern könne er nur die CSU wählen, möchte aber die von ihnen geforderte Obergrenze nicht unterstützen. Merkel ist an diesem Abend wie immer souverän und herrlich unkonkret. Ausweichende Antworten, lange Hinführungen, beschwichtigende Zugeständnisse und übertriebene Lobhudelei für den persönlichen Einsatz der Fragesteller. Alles, nur keine konkreten Antworten. Und die meisten (älteren Gäste) geben sich damit zufrieden. Sie wirken stolz darauf, mit der Kanzlerin gesprochen zu haben, sind froh, keine Fehler gemacht zu haben und dass sie zeigen konnten, dass sie gut vorbereitet und informiert sind – immerhin kommt das ja ins Fernsehen! Das ist zum einen sehr nachvollziehbar, zum anderen aber wenig hilfreich für den Diskurs.

 

Ganz im Gegensatz dazu Alexander Jorde, ein junger Mann in der Ausbildung zum Gesundheits- und Krankenpfleger. Er prangert die unhaltbaren Zustände in der Pflege an. Er erzählt von Menschen, die stundenlang in ihren Ausscheidungen liegen und fordert eine Patienten-Pfleger-Quote. Merkel windet sich um eine klare Antwort, aber er lässt sich nicht abwimmeln und widerspricht ihr: “Das kann gar nicht funktionieren!” Das Netz feiert ihn dafür.

 

Omid Saleh, 22, aus München stellt sich als „Deutscher mit Migrationshintergrund” vor. Seine Eltern kamen vor 40 Jahren aus dem Iran nach Deutschland. Omid muss seit dem Aufstieg der AfD immer häufiger fremdenfeindlichen Äußerungen und Hass ertragen. Mitverantwortlich macht er die verfehlte Flüchtlingspolitik der Regierung und fragte: „Was wollen Sie gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit tun?”

 

Die Kanzlerin antwortet vage, er solle sich nicht den „Schneid nicht abkaufen lassen” und dagegen halten. Omid ist im Nachhinein ziemlich enttäuscht von dieser Antwort: „Sie hat mir im Endeffekt keine Antwort gegeben. Ich hätte gerne noch einmal nachgefragt, aber mir wurde das Mikro weggenommen.” Die Frage habe ihn schon sehr lange beschäftigt und er wollte sie und seinen Frust in der Sendung loswerden. Nach der Ausstrahlung erhielt Omid aus seinem Umfeld viel Zuspruch. Der Vater einer Freundin sagte ihm, es sei genau diese Frage, die ihn seit 60 Jahren umtreibe. Für Omid ist es erst mit der Flüchtlingskrise so richtig schlimm geworden: „Die AfD hat den Rassismus salonfähig gemacht. Sie treiben einen Keil in die Gesellschaft. Menschen verallgemeinern und denken, dass ich ein Flüchtling oder ein Terrorist bin – nur aufgrund meines Aussehens. Sie rufen mir ‘Ausländer raus!’ oder ‘Zu welcher Terrorzelle gehörst du?’ hinterher. Ich habe Angst, dass es noch schlimmer wird, dass die AfD weiter Zulauf bekommt, dass der Hass und die Wut weiter wächst und dass Menschen versuchen, mich und andere aus der Gesellschaft auszugrenzen.”

 

Es ist interessant, dass die junge Generation der Erst- und Zweitwähler, die sich immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt sieht, sie sei unpolitisch und desinteressiert, die eigentlich interessanten Fragen in den Dialog einbringen und der Politik so Impulse geben. Sie thematisieren die Probleme und Fragen, die sie wirklich betreffen, und nicht die abstrakten, hoch politischen Fragen, die man glaubt, stellen zu müssen um gut dazustehen oder um sich zu profilieren.

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