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Die WG mit Blick aufs Gefängnis

Foto: Eva Hoffmann

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„Krass“ ist meist die erste Reaktion bei WG-Partys, wenn Gäste unsere Küche betreten. Sie sind dann betroffen oder schockiert, lachen nervös oder gehen schnell in einen anderen Raum. Man kann es ihnen nicht übel nehmen, der Ausblick aus dem Küchenfenster drückt auf die Feierlaune. Und anfangs hat er mich auch irritiert.

Während unsere Nachbarn in der Wiener Josefstadt auf prächtige Barockkirchen, Parks und Gässchen mit Kopfsteinpflaster schauen, wird unser Blick von einem schweren, grauen Betonklotz blockiert. Zwischen den quadratischen Fenstern mit den Eisengittern und unserem Küchenfenster mit der vertrockneten Kakteensammlung liegen gerade mal 20 Meter und eine durchsichtige Wand aus haushohem Natodraht. Beim Frühstück schauen wir auf das größte Gefängnis Österreichs. Meine erste Reaktion war da auch erst mal: „krass“.

Es gibt Orte, die scheinbar keine Existenzberechtigung im Stadtbild haben. Bordelle, Mastanlagen oder eben Gefängnisse. Nicht gerade der Ausblick, den man sich für ein entspanntes Feierabendweinchen oder eine WG-Party wünscht. Diese Orte machen betroffen, rauben uns den Appetit oder die Lust am Feiern. Weil sie steingewordene Monumente einer Parallelwelt sind, an der wir täglich vorbeileben und die sich sonst ganz gut ignorieren lässt. Aber genau deshalb lohnt es sich, mal genauer hinzusehen - wenn auch nur durchs Küchenfenster.

Eigentlich sind unsere eingesperrten Nachbarn nämlich ziemlich umgänglich. Wenn wir bei offenem Fenster die Küche putzen, werden schon mal Musikwünsche durch die 10 qm  Innenhof gebrüllt, die uns trennen. Seeed wollten unsere Nachbarn einmal hören, als wir dem Wunsch nachkamen und aufdrehten, feierte dazu das halbe Knast-Stockwerk. Kurz kann man in so einem Moment vergessen, dass das keine freiwillige Nachbarschaft ist. Denn am Ende sitzen wir ja doch am längeren Hebel und können das Fenster jederzeit schließen, wenn andere Wünsche kommen, die man weniger gerne erfüllt als einen Seeed-Song aufzulegen. Wenn es darum geht, Grüße in dubiosen Bars auszurichten oder unsere Namen zu nennen. Rufe wie „Mädchen, komm zurück ans Fenster, bitteee!“ lassen vermuten, dass das Leben im Knast keine Party ist.

Tatsächlich liest sich die Liste der Skandale im „Grauen Haus“, wie das Gefängnis von Wienern genannt wird, wie die Zusammenfassung einer Staffel Orange is the new Black: Von Drogenhandel zwischen Personal und Insassen, über Selbstmorde bis hin zu einem Großkriminellen, dem  im gefälschten Anwaltskostüm die Flucht gelang, war in den vergangenen zehn Jahren so ziemlich alles dabei. Immer wieder gerät der „Häfn“ (österreichisch für Gefängnis) in die Kritik von Menschenrechtsorganisationen, weil es chronisch unter Personalmangel leidet und aufgrund der Überbelegung den Bedürfnissen der mehr als 1000 Insassen nicht gerecht werden kann. Auch Josef S., dessen Festnahme nach den Protesten gegen den Wiener Akademikerball 2014 zu einer Art Präzedenzfall wurde, saß bei uns gegenüber mehr als sechs Monate Untersuchungshaft ab. Der deutsche Student berichtete von menschenunwürdigen Verhältnissen und bemängelte vor allem die knappe Ausgangszeit im Innenhof von nur einer Stunde pro Tag.

Wenn wir am Sonntagmorgen nach einer zu langen Nacht noch einen letzten Absacker in der Küche trinken, geht in den Fenstern unserer Nachbarn wie bei einer Dominoparade reihum das Licht an. Um Punkt 6.30 Uhr. Vielleicht bestellen wir uns jetzt noch eine Pizza, wenn wir Lust drauf haben. Die Freuden der Selbstbestimmung. Und eine kleine Vorstellung davon, was diese höchste aller Strafen, der Freiheitsentzug, bedeuten mag.

Gestern habe ich wieder ein Tauschgeschäft zwischen den Männern im oberen und den Frauen im unteren Stock beobachtet.

Neben B-Promis wie dem Waffenlobbyisten Alfons Mensdorff-Pouilly oder dem Ex-Innenminister Ernst Strasser sitzen und saßen in meiner Nachbarschaft sicher schon Menschen wegen sehr viel brutaleren, aber auch sehr viel banaleren Delikten ein. Für Drogenhandel, Schwarzfahren oder das Warten auf Abschiebung können Männer, Frauen und Jugendliche bis zu 18 Monate in der Justizanstalt festgehalten werden. Keine Handys, keine Laptops, bis zu zwei Mal pro Woche Besuch. 

Hauptzeitvertreib scheint der Fernseher zu sein. In 15 Zimmern, die wir vom Küchentisch aus sehen können, flackern abends unisono die Bildschirme. Auch Rauchen ist wohl erlaubt, letzte Woche zündete ein Häftling in Untersuchungshaft seine Matratze an. Wohl um den anderen beiden erfahreneren Zellengenossen zu entkommen, munkelt es in der WG. Wir tauschen beiläufig Knast-Gossip, so, als hätte mal wieder jemand im Haus vergessen, die Biotonne rauszustellen. Gestern habe ich wieder ein Tauschgeschäft zwischen den Männern im oberen und den Frauen im unteren Stock beobachtet. Über mehrere Etagen werden Gegenstände an Fäden von A nach B bugsiert. Normal. Ich winke mit der gleichen Alltäglichkeit zurück, mit der ich auch die anderen Nachbarn im Treppenhaus grüße.

„Krass“ finde ich das schon lange nicht mehr. Krass finde ich, wenn sich die einzigen Gespräche im Hausflur auf den „Schandfleck“ nebenan beschränken. Und wenn das Gejammer über den unästhetischen Ausblick von alleinstehenden Menschen kommt, die eine Wohnung in der Größe unserer Sechser-WG als Atelier nutzen. Dabei löst der optische Schock ein Gefühl im Bauch aus, das auch im Hirn was anregen kann. Das uns nachdenken lässt über die Selbstverständlichkeiten des Alltags und den Preis der Freiheit.

Denn dass mich potenziell gar nicht so viel von meinen Nachbarn hinter Gittern trennt, habe ich im letzten Sommer am eigenen Leib erfahren. Aus Versehen bin ich mit dem Fahrrad direkt vor einem Polizeiauto über Rot gebrettert. Zwei Wochen später dann die Anzeige im Briefkasten: Ich könne mir aussuchen, ob ich die 140 Euro überweisen, oder eine Ersatzstrafe von drei Tagen im Gefängnis absitzen will. Hätte ich mir ein Zimmer zum Hof aussuchen können, hätte ich das vielleicht sogar getan. 

Dieser Text erschien erstmals am 07. November 2016 und wurde am 6.August 2020 aktualisiert.

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