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Zu Besuch in einer Elfer-WG

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Ziemlich genau zwei Wochen her: Elf Augenpaare starren auf Antoine Griezmann, als der französische Stürmer im Halbfinale Deutschland gegen Frankreich zum Elfmeter ansetzt. Als das Tor schließlich fällt, wird gestöhnt und geflucht, einer springt vom Sofa auf. Während der Halbzeit gibt es eine Runde selbstgemachten Kirschlikör. Zum Trost. Ein Fußball-Abend unter Freunden? Fast. Es gibt einen Unterschied: Nach Abpfiff geht hier niemand nach Hause, denn jeder ist bereits dort. Zu elft wohnen sie in dieser Wohngemeinschaft in Stuttgart. 

Eine WG mit elf Personen zwischen 23 und 31 Jahren – unwillkürlich denkt man da an Teller, Pizzakartons und Pfandflaschen, die sich stapeln. Bedeuten so viele junge Leute auf einem Haufen nicht pures Chaos und ein Minimum an Privatsphäre? Gibt es nicht ständig Futterneid und Streit wegen leerer Waschmittel- und Shampooflaschen? Oder herrscht statt totaler Anarchie etwa eine besonders strenge Hausordnung? Ein Zwei-Tages-Besuch in Stuttgart gibt Antworten und zeigt: Neben dem Ausgeh-Fluch hat so eine große WG auch einige Vorteile.

Die Elfer WG liegt in Bad Cannstatt. Menschen, die in besseren Vierteln Stuttgarts leben, sagen, Bad Cannstatt wäre das Ghetto der Stadt. Menschen, die in Bad Cannstatt leben, sagen, das Viertel habe einen schönen Altstadtkern, viele arabische und türkische Supermärkte und äußerst tolerante Einwohner. Mit den Nachbarn hat die WG kaum Probleme. Nur bei den wirklich großen Partys, wie der jährlichen zu Halloween, wird regelmäßig die Polizei gerufen. "Die kommt dann, sieht zweihundert Studenten, ermahnt und zieht wieder ab", erzählt der 28-jährige Matze. Die Beamten wollen lieber zweihundert Studenten im Haus, als draußen im Hof. 

Halloween

Die Parties der Elfer-WG sind stadtbekannt. Zur Halloween-Feier im letzten Jahr kamen rund 200 Leute.

Foto: Privat

Im Herbst soll in eben diesem Hof ein Fest stattfinden, zu dem auch alle Nachbarn eingeladen sind. Auf einem Whiteboard im Wohnzimmer hat Bewohnerin Nadja die Planung aufgemalt. Die 27-Jährige ist so etwas wie die Feel-Good-Managerin der WG. Sie hat Medienwirtschaft studiert, "irgendwas mit Mädchen",  wie man in der WG sagt, und fängt im September als Projektmanagerin einer Eventagentur an. Bis dahin managt sie weitestgehend die WG-Events.

Beim Hoffest wird sie mit ihrem Bruder als DJ-Duo auftreten, daneben soll es einen Flohmarkt, ein Beerpong-Turnier und eine Schokokuss-Schleuder geben. Die Partys der WG sind stadtbekannt, große Spirituosenhersteller treten als Sponsoren auf. Zudem hat jede der Partys ein eigenes Motto. Von der "Around the world party", bei der die Gäste sich als Länder verkleiden mussten, hängt beispielsweise noch eine Weltkarte.

Betritt man den langen, loftartigen Wohnraum der WG, geht der Blick aber zunächst auf einen Bartresen mit Bambusverkleidung, dann auf einen Kicker, dann hoch zu einer Diskokugel. Die hohe Decke ist komplett verglast wie bei einem Gewächshaus. An Sommerabenden wie diesem wird es hier fast unerträglich heiß. Der Längsraum dient als Wohnzimmer und Küche zugleich. Elf, circa 20 Quadratmeter große Zimmer gehen davon zu beiden Seiten ab, es gibt drei Bäder und einen kleinen Balkon. Wer seine Ruhe will, zieht sich in sein Zimmer zurück. "Tür zu heißt Tür zu" – die Regel sei für ein entspanntes Zusammenleben extrem wichtig, erklärt Najda.

Kicker

Der Kicker kommt regelmäßig zum Einsatz, an den Wänden hängen Erinnerungen an vergangene Parties und Reisen.

Foto: Privat

Tritt man etwas weiter in den Raum hinein, ist links ein Regal. Weiß und quadratisch, mit 25 Fächern. Darin vor allem Kaffee, Tee, Müsli und Obst. Kleine Namensschilder zeigen an, wem welches Fach gehört. Vor dem Regal steht ein halbleerer Kasten Bier. Doch Grundnahrungsmittel ist eine andere urschwäbische Spezialität: Maultaschen.

"Pro Woche werden bei uns so um die hundert Maultaschen gegessen", schätzt Nadja. Seinen Höhepunkt erreichte der Maultaschenkonsum, als noch alle der elf WG-Bewohner studierten und es die Maultaschen nach dem Feiern als Mitternachtssnack gab. Bis einem der Bewohner das nächtliche Pfannen- und Tellerklappern so auf die Nerven ging, dass er, während seine Mitbewohner unterwegs waren, sämtliche Maultaschen-Vorräte aus den Kühlschränken nahm und sie verstecke. Der Maultaschen-Prank, über den man heute lachen kann, brachte damals kurzzeitig den WG-Frieden in Gefahr.

Kühlschränke sind ein sensibles Thema

Die vier Kühlschränke –  und vor allem die drei Gefrierfächer  – sind ohnehin ein sensibles Thema in der WG. "Es bleibt nie drin, was man reintut. Und was einmal nach ganz hinten gerät, wird dort für immer vergessen", sagt Aron. Der 29-Jährige hat einen Master in BWL und war bis vor kurzem als "Finanzminister" der WG für den WG-Haushalt zuständig. Seit Aron bei Bosch arbeitet, verdient er eigentlich genug, um eine eigene Wohnung zu finanzieren. "Aber irgendwie komme ich von der WG nicht los, ich habe mich bisher für einen konservativeren Lebensstil nicht bereit gefühlt", sagt er. Aron ist nicht der einzige, der trotz Jobs das WG-Leben vorzieht. Marius, 31, den sie hier aufgrund seiner Promotion den Doktor nennen, arbeitet Vollzeit bei Daimler. Die 23-jährige Josi hat nach ihrem Bachelor-Abschluss bei Hugo Boss angefangen.

Regal

Jeder der elf Bewohner hat mindestens ein Regal-Fach, das mit Namen versehen ist. Was geteilt wird, steht oben drauf.

Foto: Privat

Den Finanzminister-Posten von Aron hat seit kurzem der 30-jährige Hannes übernommen – und gleich ein Sparprogramm angekündigt: "Wir müsse den Gürtel enger schnalle!" Bisher ist der monatliche WG-Beitrag recht gering. Zusätzlich zu den im Durchschnitt 400 Euro Miete (für Stuttgart ein okayer Preis) zahlt jeder 25 Euro für Gemeinschaftsanschaffungen wie Internet und Toilettenpapier. 

 

Obwohl der Vermieter wohl nichts gegen sie hätte, sind Haustiere ein leidiger Diskussionspunkt in der WG. Nadja hätte gerne eine Babykatze. Regelmäßig postet sie Katzenvideos in den WG-Chat auf Whatsapp. Doch ihr gegenüber stehen einige strikte Katzengegner. Auch an diesem Abend beendet Marius die Haustier-Debatte recht schnell: "Wir haben noch nicht mal die Wohnung im Griff, wie sollen wir da einer Katze gerecht werden?!"

 

"Die Putzfrau nimmt einiges an Eskalationspotenzial aus der WG"

 

Dabei ist die Wohnung für elf Bewohner überraschend ordentlich. Es gibt Schilder, die zur Mülltrennung auffordern. Auch Pfand und Altglas werden sortiert. Ein Putzdienst regelt wöchentlich, wer Müll und Leergut rausbringen, staubsaugen und Handtücher waschen muss. Auf einer langen Wandtafel werden To Do's wie "Schlüssel nachmachen" lassen verteilt. Zudem kommt einmal pro Woche eine Putzfrau. "Die nimmt schon einiges an Eskalationspotenzial aus der WG", so Marius. Was dieses hingegen steigere sei, wenn die Spülmaschine kaputt ist. Davon gibt es nämlich nur eine. Und auch nur zwei Waschmaschinen und vier Wäscheständer. Streit gäbe es aber deswegen trotzdem nie.

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Ob die Wahl zum "Finanzminister" oder ein EM-Tippspiel, auf diesen zwei Tafeln in der Küche der WG wird alles festgehalten.

Foto: Felix Bauermeister
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Wenn in der Küche kein Platz mehr ist oder man seine Vorräte nicht teilen will, hilft nur ein eigenes Regal im Zimmer für Gin und Co.

Foto: Felix Bauermeister
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Einige der Bewohner haben sich eine zweite Etage in ihrem Zimmer eingebaut.

Foto:Felix Bauermeister
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Eines der eher puristisch eingerichteten WG-Zimmer.

Foto: Felix Bauermeister
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Der Fahrstuhl in diesem Schlafzimmer stammt noch aus einer Zeit, in der das Gebäude eine Produktionshalle war.

Foto: Felix Bauermeister

Wenn es um ein respektvolles Miteinander und die Zurückstellung eigener Bedürfnisse geht, in diesem Punkt ist man sich hier einig, ist die XXL-WG die beste Schule. "Wir haben sogar mal überlegt, einen einwöchigen Kurs anzubieten, in dem Menschen sich bei uns als perfekte Mitbewohner ausbilden lassen können", erzählt Nadja. Es ist nur eine von vielen Geschäftsideen, die an langen Abenden wie heute mit reichlich Zigaretten, Meckatzer-Bier und Gin-Tonic entwickelt werden.

 

Mehrfach wurde eine Youtube-Serie ins Spiel gebracht. Die Idee für den Titel "Jung & Pleite Bad Cannstatt" kommt von Matze, der Audiovisuelle Medien studiert und als Werkstudent in einem Jugendverlag arbeitet. Eigentlich sei es nur logisch, aus der WG heraus ein Unternehmen zu gründen, findet Nadja: "Wir haben hier alles im Haus: einen Videoproduzenten, einen Designer, eine Marketing-Expertin, einen BWLer, einen Informatiker und jemanden, der sich mit Drucktechnik auskennt." Man scheitere bislang aber stets an der Umsetzung.

 

XXL-Reisegruppe: Die WG in Jordanien

 

Dabei bewies die WG erst kürzlich, wie organisationsstark sie sein kann. Der Anlass: eine Reise nach Jordanien, wo sie zwei ehemalige jordanische Untermieterinnen besuchte. Geschlossen. In voller Mannschaftsstärke. "Rein statistisch eigentlich unmöglich, aber am Ende waren wir alle elf dort", so Aron. Das jordanische Tourismus-Büro war so begeistert von der großen Reisegruppe, dass sie der WG ein Paket mit Infomaterial schickte – in elffacher Ausführung. Eine Landkarte, auf der jeder mit einer Stecknadel seinen Lieblingsort markieren kann, hängt jetzt im Wohnzimmer. Wenn die Bewohner so davorstehen und von ihrer Reise schwärmen, wirken sie wie eine Großfamilie über dem Familienalbum.

Jordanien

Die komplette WG mit jordanischen Freunden im Juni 2016 vor der berühmtem Fassade der Felsenstadt Petra.

Foto: Privat

Und der nächste Familienausflug ist schon in Planung: Im August fahren alle gemeinsam zum Sound of Forest Festival in den Odenwald. Die Karten dafür haben sie sich gegenseitig zum Geburtstag geschenkt. Dann klappt es auch endlich mal wieder mit dem gemeinsamen Feiern außerhalb der WG-Wände. Denn an diesem Abend sind es nur vier, die nach dem Spiel noch in einen Club weiterziehen.

 

Morgens um fünf sind sie wieder daheim. In der Elfer-WG ist es da still. Auf dem Küchentisch stehen noch die Reste vom Vorabend. Nadja holt vier Teller raus, dann lässt sie Butter in einer Pfanne zergehen. Es ist das Glück einer großen WG: Am Ende des Abends muss niemand alleine nach Hause gehen und es ist immer jemand da, mit dem man seine Maultaschen teilen kann.

 

 

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