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Ich bin Alkoholiker

Illustration: Federico Dalfrati

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Montag, 1. Mai 2006. Ich wache in meiner Kotze auf. Auf dem Teppich neben dem Bett. Den letzten Meter habe ich wohl nicht mehr geschafft. Keine Ahnung, wie ich hierher gekommen bin. Es waren ein paar Freunde da, wir haben uns betrunken, sind zu einer Party gegangen. Irgendwann setzt die Erinnerung aus. Vielleicht habe ich ein Taxi genommen, vielleicht hat mich ein Freund heimgebracht, vielleicht bin ich selbst gefahren. Drauf geschissen.

Meine Hände zittern leicht. War schon mal schlimmer. Ein Bier nach dem Duschen würde Abhilfe schaffen. Maifeiertag – da ist es unwahrscheinlich, dass ich den Tag nüchtern beende.

Hätte ich zu dem Zeitpunkt gewusst, dass ab diesem Tag alles anders wird: Ich hätte mir sofort ein Bier aufgemacht. Aber ich habe es langsam angehen lassen. Bis zum Nachmittag zwei, drei Bier, dann los zur Maiwanderung. Ich bin natürlich nicht wandern gegangen, sondern habe meine Kumpels am Ausgangspunkt getroffen. Dort haben wir gegrillt und getrunken. 

Ich bin Alkoholiker. Nach diesem Maifeiertag habe ich nie wieder getrunken. Am 2. Mai 2006 haben mich meine Schwester und meine damalige Freundin ins Krankenhaus gebracht. Ich hatte mich mit meiner Freundin häufig über diesen Schritt gestritten, schließlich hat sie sich mit meiner Schwester zusammengetan und die Reißleine gezogen.

Wie konnte es passieren, dass mir mit 26 Jahren mein Trinkverhalten dermaßen entglitten war?

Zunächst habe ich mich beim Trinken kaum von meinen Freunden unterschieden. Ich bin ein ziemlich normaler Typ, stamme aus gutem Haus, hatte eine glückliche Kindheit, war gut in der Schule. Ich habe Fußball gespielt, Musik gemacht, bin gerne ins Kino, zu Partys und Konzerten gegangen. Das Übliche.

Ich war vielleicht zwölf, als ich mit drei Freunden nach der Schule Bier trinken gegangen bin. Einer von uns sah schon etwas älter aus, er hatte drei Dosen für jeden besorgt. Nachdem ich meinen Teil geleert hatte, bin ich nach Hause gegangen. Kaum angekommen, habe ich mich übergeben. Sehr flüssig und mit so viel Druck, dass es aus Nase und Mund gleichzeitig kam. Am nächsten Tag hatte ich in der Schule das Gefühl, einem elitären Club anzugehören, der Männer von kleinen Jungs trennt – das erste Mal, dass ich durch Alkohol Anerkennung und Wertschätzung erfahren habe.

Ich habe nie Grenzen gefunden

Das nächste Mal war auf einer Party meiner großen Schwester. Ihre Freunde haben sich einen Spaß daraus gemacht, mich abzufüllen. Wieder habe ich gekotzt, wieder habe ich Anerkennung gespürt. Also habe ich weitergemacht. Junge Menschen testen aus, wie weit sie gehen können, wo ihre Grenzen liegen. Nur: Ich habe nie Grenzen gefunden.

Stattdessen habe ich immer häufiger getrunken. Mein erster Abiturversuch ist dem Rausch zum Opfer gefallen. Restalkohol in der mündlichen Prüfung. Das Prüfungsthema war nicht das Problem – ich bin durchgefallen, weil ich mich einfach nicht artikulieren konnte. Immerhin habe ich mich damals noch so weit diszipliniert, dass ich das Abi im zweiten Anlauf gepackt habe.

Zum Studium habe ich meine Heimat verlassen. Andere Stadt, anderes Trinkverhalten, nämlich: noch mehr. Vielleicht war es die Einsamkeit, vielleicht der Drang, dem Alltag des Studiums zu entfliehen. Ich hatte allerlei fadenscheinige Erklärungen, die nichts daran geändert haben, dass sich mein Leben nur noch ums Trinken drehte.

Wer biegt schon auf dem Weg zur Uni in den Supermarkt ab, um dann den Rest des Tages allein in der Studentenbude zu verbringen, mit Bacardi-Cola hinter geschlossenen Jalousien? Dieses Szenario kam öfter vor, als dass ich Vorlesungen besucht hätte. Heute denke ich, dass ich in dieser Zeit den Schritt vom kritischen Konsum zum abhängigen Trinken gemacht habe.

Nachdem ich meinen Studienort gewechselt hatte, wurde es etwas besser. Ich bin wieder bei meinen Eltern eingezogen, hatte Stabilität und mein altes Umfeld. Dann aber habe ich Situationen geschaffen, in denen getrunken wird. Habe Freunde eingeladen oder mit meiner Freundin Rotwein getrunken. Bin mit meinen Jungs zum Fußballtraining gegangen, um mich danach im Vereinsheim zu betrinken. Und wenn meine Freundin meinte, dass ich zu viel oder zu früh am Tag trinke, habe ich alles kleingeredet. Abhängige verhalten sich so – das wurde mir aber erst mit der Therapie klar.

Statt Schnaps gab es in der Klinik Tabletten

Die Einlieferung ins Krankenhaus bedeutete erst mal: 13 Tage Entgiftung. Statt Schnaps gab es in der Klinik Tabletten, die die Symptome des Entzugs lindern sollten. Die innere Unruhe, den Schweiß, die Übelkeit und den ständigen Drang, zu trinken. Während der ersten fünf Tage dürfen Patienten die Klinik nicht verlassen, weil das Rückfallrisiko zu hoch ist. Diese Einschränkung der persönlichen Freiheit ist Teil des Behandlungsvertrages, dem ich zugestimmt hatte. Dennoch dachte ich die ganze Zeit: Ich gehöre hier nicht her.

Der erste Mitpatient, der mich in der Klinik angesprochen hat, erzählte stolz, dass er am Vortag mit fünf Promille eingeliefert worden war. Sein siebter Entzug. Gefrühstückt habe ich damals immer mit einem Mann Ende siebzig. Er war kreidebleich, hat unverständlich gesprochen und nicht gemerkt, dass ihm Speichel aus dem Mund tropft. Ein Junkie war nur in der Klinik, um einer Haftstrafe zu entgehen. Ein anderer Mann wiederum war auf chemischen Drogen hängengeblieben und kaufte jeden Tag eine Packung Eis. “Für meine Mutter,” sagte er. Sie hat ihn nie besucht.

Zehn Tage hat es gedauert, bis mir klar wurde: Wir gehören alle hierher. Der Unterschied zwischen denen und mir lag in der Wahl der Droge oder in der Länge des Zeitraums, über den wir sie konsumiert hatten. Aber wir sind alle süchtig. Wir werden es unser Leben lang bleiben.

Den Großteil des Tages habe ich damals im Raucherzimmer verbracht, wo alle Kette geraucht und darauf gewartet haben, dass es Kaffeenachschub gibt. Im Gegensatz zu vielen meiner Mitpatienten habe ich meinen Behandlungsplan ernst genommen – auch wenn ich nie verstanden habe, wie mich das Ausmalen von Mandalas vom Trinken abhalten sollte.

Seit ich nicht mehr trinke, merke ich, wie präsent Alkohol ist.

Nach der Klinik habe ich eine ambulante Therapie gemacht. Zwei Mal pro Woche Einzelgespräch, einmal Gruppentherapie. Auch zu den Anonymen Alkoholikern bin ich gegangen. Ansonsten habe ich versucht, mein Leben auf die Reihe zu kriegen.

Seit ich nicht mehr trinke, merke ich, wie präsent Alkohol ist. Er wird überall angeboten, ist ständig Thema, wird permanent konsumiert. In unserer Gesellschaft fällt man deshalb als nasser Alkoholiker kaum auf, als trockener umso mehr. Wenn mir heute jemand Alkohol anbietet, sage ich “nein”. Auch dafür bekomme ich Anerkennung, aber eine andere als früher. Manchmal lässt sie sich nur schwer von Geringschätzung abgrenzen.

Die Jungs aus meiner Fußballmannschaft habe ich immer geliebt. Sie wussten Bescheid und haben sich Mühe gegeben, auf mich zu achten. Trotzdem: Als ich zum ersten mal trocken auf Mannschaftsfahrt war, habe ich sie gehasst. Zumindest für dieses eine Wochenende. Es fiel mir schwer zu glauben, wie toll mein neuer Weg ist, wenn mir dabei eine Zwei-Promille-Fahne ins Gesicht wehte. Wenn ich nüchtern das Gegröle von schlechtem Schlager ertragen musste. Mit jeder Runde, bei der wir zwölf Bier und eine Cola bestellt haben, wurde mir klar: Ich bin weiter dabei, aber trotzdem außen vor.

Ich weiß, wie viel Spaß Trinken macht

Heute mache ich niemandem einen Vorwurf, der in meiner Umgebung trinkt. Ich weiß, wie viel Spaß das macht. Meine Lieblingsmusiker singen viel über Alkohol. Meine Freundin trinkt gerne mal ein Glas, meine Freunde betrinken sich nach wie vor. Das ist okay. Natürlich wäre es eine gute Strategie, bestimmte Orte und Menschen zu meiden. Ich habe aber keine Lust, wegen meiner Sucht auch meine Hobbys und meinen Freundeskreis zu wechseln. Stattdessen vermeide ich Veranstaltungen, wo der Alkohol im Vordergrund steht. Ich gehe lieber dorthin, wo mich die Sache interessiert. Geht es um gute Musik bei einem Konzert? Trinkt doch alle Bier, ich trink Cola, kein Problem. Will die Mannschaft ein Wochenende lang durchzechen? Viel Spaß, ich bin ein andermal wieder dabei, wenn es um Fußball geht.

Aus Filmen und Serien kennen viele das Schlussgebet der Anonymen Alkoholiker: “Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ Ich bin kein gläubiger Mensch, doch mittlerweile trinke ich seit elf Jahren nicht mehr. Der Spruch ist mir zu einem guten Begleiter geworden. Es spielt für mich keine Rolle, wer mir Gelassenheit, Mut und Weisheit gibt. Gott, liebe Menschen oder gar ich selbst. Wichtig ist nur, danach zu leben.

Der Spruch erinnert mich daran, dass ich es nicht ändern kann, dass um mich herum getrunken wird. Dass Fernsehsender vor Fußballübertragungen Bierwerbung schalten, dass Menschen bei Feiern mit Sekt anstoßen. Aber ich kann mich ändern. Ich will mich schließlich nicht einsperren, weil da draußen dieses Monster auf mich wartet. Ich muss mich nur wappnen für den Ernstfall und den Mut aufbringen, gefährliche Situationen zu erkennen. Darauf habe ich Einfluss – und das zieh ich durch.

Die Redaktion respektiert den Wunsch des Autors, diesen Text anonym zu veröffentlichen.

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