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Ich wurde von meinen Eltern zum Alkoholtrinken erzogen

Illustration: Federico Delfrati

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Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich meine Mutter zum ersten Mal betrunken erlebt habe. Ich war noch klein, frühes Grundschulalter vermutlich. Sie kam von einer Geburtstagsfeier zurück, ihre Lippen und Zähne waren blau-schwarz vom Rotwein, die Augen glasig, das Grinsen schwammig. Sie war ziemlich angetrunken – und ich habe mich ziemlich erschrocken. Ich fühlte mich auf einmal allein, so, als könnte der Mensch, auf den ich mich auf der Welt bisher am allermeisten verlassen hatte, mir nicht mehr helfen, wenn mir jetzt etwas passieren würde. 

Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist: dass ich es normal fand, dass sowohl mein Vater, als auch meine Mutter regelmäßig angetrunken waren. Und das Übernächste: dass es normal war, wenn ich selbst angetrunken war. Das hat vieles leichter gemacht. Aber manchmal frage ich mich, ob die Normalität nicht so sein sollte, wie in meiner ersten Erinnerung: dass es eher die Ausnahme ist und nicht völlig gewöhnlich, dass man sich betrinkt. Ob es nicht seltsam ist, dass ich mit Alkohol um mich herum und schließlich mit Alkohol im Blut aufgewachsen bin. 

Niemand in meiner Familie hat ein Alkoholproblem. Aber alle in meiner Familie trinken. Es ist normal, dass immer Alkohol im Haus ist. Es ist normal, dass man zum Essen oder am Abend eine Flasche Wein aufmacht. Dass es nach dem Essen einen Schnaps gibt. Dass es zu Geburtstagen, zu Weihnachten, bei der abendlichen Runde im Wohnzimmer etwas zu trinken gab und gibt. Und es war auch vollkommen normal und klar, dass ich als Teenagerin ebenfalls anfangen würde zu trinken. Irgendwann bekam ich eben auch das Glas Sekt in die Hand gedrückt.

Über die Gefahren von Drogen haben wir gesprochen, über die Gefahren von Alkohol nicht. Kiffen war ein absolutes Tabu, Trinken nicht. Im Biologieunterricht der Schule wurden wir zwar auch vorm Alkohol gewarnt, als man uns über Drogen aufklärte – aber so richtig ernst genommen habe ich das nicht. So schlimm konnte etwas, das flaschenweise im eigenen Keller lagerte, ja nicht sein.

Während andere nach einem Festival eine Alkoholpause machen, sage ich: „Ich trinke heute nichts. Ich habe meine Eltern besucht.“ 

Klar ist es schlimmer, wenn sich das eigene Kind Heroin spritzt, als wenn es ab und zu mal zu viel trinkt. Trotzdem finde ich es rückblickend fragwürdig, wie präsent Alkohol zuhause immer war. Heute ist er es immer noch: Wenn ich meine Eltern besuche, trinke ich. Selbst, wenn ich mir vornehme, nichts zu trinken, habe ich plötzlich ein Glas Wein vor der Nase stehen. Diese Geste ist so gewohnt und heimelig und freundlich, dass ich es nicht übers Herz bringe, sie abzulehnen. Und Zuhause fühlt sich nach dem Glas auch gleich viel mehr nach Zuhause an. Es gehört einfach dazu. Darum habe ich häufig Kopfschmerzen, nachdem ich einen Abend mit meinen Eltern verbracht habe. Und während andere nach einem Festivalbesuch eine Alkoholpause machen, sage ich ziemlich häufig: „Ich trinke heute nichts. Ich habe grade meine Eltern besucht.“ 

Viele sagen, Alkohol sei gesellschaftlich zu akzeptiert und werde verharmlost. Und manchmal denke ich: stimmt. War bei mir Zuhause auch so. Aber vielleicht war es auch anders. Vielleicht war das Aufwachsen mit Alkohol genau richtig, um einen verantwortungsvollen Umgang damit zu lernen. Ich musste mich ja nie heimlich betrinken. Und das Trinken, das mir vorgelebt wurde, war trotz allem immer noch ein Genusstrinken. Eins zum Spaß. Kein kopfloses Besaufen, kein Ertränken der Sorgen im Alkohol. Wenn ich jemals besoffen zur Schule gegangen wäre, hätten meine Eltern sehr sicher eingegriffen.  

Lange Zeit hatte ich nur Freunde, in deren Familien das genauso lief. Ich war sehr erstaunt, als ich nach der Schulzeit Menschen kennenlernte, deren Eltern keinen oder wenig Alkohol trinken und für die es darum nicht völlig normal war, dass immer Wein und Bier und Schnaps im Haus waren. Sie haben das Trinken erst „gelernt“, als sie ausgezogen sind. Bei mir war es andersherum: Ich habe den Verzicht erst gelernt, als ich ausgezogen bin. Und sage darum mittlerweile verhältnismäßig oft den Satz: „Ich habe heute keine Lust auf Alkohol.“

Die Autorin dieses Textes möchte anonym bleiben, damit sie auch beim nächsten Besuch bei den Eltern noch etwas zu trinken angeboten bekommt.

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