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Eltern sind schlechte Ratgeber

Illustration: Lucia Götz

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Als ich mich zum ersten Mal dem Willen meiner Eltern widersetzte, war ich 20. Damals ging es um einen Mann, den ich sehr gern hatte und mit dem ich zusammen sein wollte. Davon hielten sie nichts. Das wusste ich, denn sie hatten es mir mitgeteilt. Mit Worten, mit Blicken, mit diesem gewissen Tonfall, der sagt: „Ich kann das besser einschätzen als du.“ Dass es nicht in ihren Aufgabenbereich fiel, irgendetwas einzuschätzen, dass ich nicht danach gefragt hatte, war egal. Und obwohl ich wusste, dass ich für mein eigenes Leben meine eigenen Entscheidungen treffen darf, tat es weh, mich wissentlich gegen ihr Wohlwollen zu entscheiden.

Ich kenne Menschen, die haben es schon mit 13 Jahren geschafft, nichts mehr auf die Meinung ihrer Eltern zu geben und einfach zu machen, worauf sie Lust haben. Mein Bruder gehört dazu. Für ihn funktioniert das gut. Als unsere Eltern ihm erklärten, was sie davon hielten, dass er nach dem Abitur sechs Monate lang nicht vor zwölf Uhr mittags aufstand, blaffte er zurück – und machte weiter wie bisher. Ich empfinde eine große Hochachtung vor dieser gesunden Prise Ignoranz. Aber die fehlt mir.

Dazu war die Beziehung zu meinen Eltern vielleicht zu gut. Vor allem zu meiner Mutter. Liebeskummer, Weltschmerz, Streit mit der besten Freundin – ich vertraute ihr alles an in dem Glauben, sie sei unparteiisch. Sie kam ja nie direkt mit den Menschen in Kontakt, von denen ich erzählte. Was ich dabei ausblendete, war, dass ihre Ratschläge niemals objektiv sein konnten. Weil sie meine Mutter war und ist. Weil es ihr als ebenjene Mutter nicht möglich ist, mal keinen Ratschlag zu geben. Oder darauf hinzuweisen, dass ihre Einschätzung der Umstände zwar von mehr Lebenserfahrung geprägt ist als die meiner Freundinnen, deshalb aber nicht immer richtig sein muss.

Mit der Entscheidung für diesen Mann damals hat sich etwas verändert. Zuerst dachte ich, die Situation sei viel dramatischer, die Beziehung zu meiner Mutter sei kaputt gegangen. Aber nach und nach habe ich begriffen, dass es wohl zum natürlichen Prozess des Erwachsenwerdens gehört, die kindliche Abhängigkeit von den Urteilen der Eltern zu kappen. Mir wurde klar, dass Eltern nicht immer Recht haben. Ein Schock, der mein Weltbild kurzzeitig erschütterte. Worauf konnte ich mich jetzt noch verlassen?

Als ich ein Kind war, waren es meine Eltern, die mir Halt gaben in der Welt. Sie haben mir beigebracht, nach links und rechts zu schauen, bevor ich über die Straße gehe. Deswegen wurde ich nicht von einem Auto überfahren. Sie haben mir erklärt, dass Feuer gefährlich ist. Deswegen puste ich die Kerzen am Adventskranz aus, bevor ich das Haus verlasse. Sie haben mir beigebracht, meine Hausaufgaben zu machen und was soll ich sagen – ich habe mein Abi und bald einen Studienabschluss. Ihre Ratschläge haben mich während meiner Kindheit immer in die richtige Richtung geführt. Sie haben dafür gesorgt, dass ich aus dem kritischen Alter heraus- und zu einem lebensfähigen Individuum herangewachsen bin. Wären wir Pinguine, wäre ihre Aufgabe jetzt abgeschlossen.

Sind wir aber nicht. Darum bekomme ich immer noch Ratschläge, wie ich mein Leben als junge Erwachsene führen sollte. Die sind meist getarnt mit mehr oder weniger diplomatischen Floskeln wie „An deiner Stelle...“ oder „Ich wundere mich, dass du xy tust“.

Ich sollte kein schlecht bezahltes Praktikum mehr machen, sondern gleich arbeiten. Ich sollte den Master in zwei Jahren durchziehen, weil ich doch weiß, was ich werden will. Ich sollte meine Haare wachsen lassen, weil das viel besser an mir aussieht als eine Kurzhaarfrisur. Egal, wie wenig ich ihnen zustimme, egal, wie unrealistisch sie den Arbeitsmarkt einschätzen, auf dem ich mich behaupten muss oder wie wenig ausschlaggebend es für mich ist, für wie attraktiv sie mich halten – zu zweifeln beginne ich trotzdem jedes Mal. Da drängelt sich das kleine Mädchen in mir nach vorne. Das reicht mir zwar nur bis zur Taille, zupft aber an meinem T-Shirt und sagt: „Als du dich damals nicht zwischen den beiden Schulränzen entscheiden konntest – da hatten sie auch Recht!“

Ich bin eine Enttäuschung, wenn ich nicht tue, was meine Eltern gut finden

Denn wer kennt mich besser als meine Eltern? Einen Ratschlag von ihnen nicht anzunehmen wäre Frevel. Und ich selbst bin eine fürchterliche Enttäuschung, wenn ich nicht tue, was sie gut finden. Dieses Gefühl blinkt immer noch wie ein Warnzeichen in meinem Kopf. Und ist zum Teil unnötigerweise selbstauferlegt. Ich bin so hypersensibel für wohlmeinende Ratschläge aller Art, dass ich schon hellhörig werde, wenn der Tonfall meiner Eltern bei einem heiklen Gesprächsthema nicht durch und durch neutral ist. Obwohl ich meine Entscheidung längst getroffen habe, verunsichern mich diese winzigen Meinungsäußerungen. Da schalte ich reflexartig in meinen aggressiven Rechtfertigungsmodus. Das ist auch von mir manchmal ganz schön unfair.

Inzwischen versuche ich, eine distanziertere Haltung gegenüber den Urteilen meiner Eltern einzunehmen. Dazu gehört, sie mehr als Menschen zu sehen, die sich auch mal irren können, und weniger als allwissende Autoritäten. Meine Welt wird dadurch unsicherer. Entscheidungen, die ich treffe, muss ich vor mir selbst verantworten. Wenn was schief geht, dann kann ich das nicht auf meine Eltern schieben, denn sie hatten damit nichts zu tun. Sie können nicht mehr zum Schulleiter gehen und für ihre Tochter eintreten. Würden sie aber sicher gerne immer noch.

Eines darf man nämlich nicht außer Acht lassen – und das ist vielleicht der Knackpunkt – alles, was Eltern tun oder sagen, tun oder sagen sie, weil sie das Beste für ihr Kind wollen. Aus ihrer Perspektive, die eben nicht immer mit der Lebenswelt ihrer Tochter oder ihres Sohnes übereinstimmt. Trotzdem ist es relativ wahrscheinlich, dass meine Eltern mich nicht verachten werden, wenn ich eine eigene Entscheidung treffe. Zu dieser Selbstständigkeit haben sie mich schließlich erzogen. Mit jedem Schritt, den ich ohne die vollkommene Zustimmung meiner Eltern gehe, lerne ich – und lernen sie – dass ich das eigentlich ganz gut hinkriege. Mit meinem Freund bin ich jedenfalls immer noch zusammen. Der Boden unter meinen Füßen hat sich nicht geöffnet, obwohl meine Eltern ihren Segen nicht gegeben haben. Ich habe Recht behalten. An diesen Umstand muss auch ich mich erst einmal gewöhnen.

Auch dieser Text ist etwas, von dem ich nicht weiß, ob meine Eltern es gutheißen werden. Auch wenn kein Name in der Autorenzeile steht: Sie werden wissen, wer ihn geschrieben hat – sie kennen mich nun mal sehr gut.

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