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Wenn Eltern zu unselbstständigen Pessimist*innen werden

Illustration: Lucia Götz

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„Da rein? Das schaffe ich bestimmt nicht!“, sagt Mama. Wir stehen vor einer Parklücke, die zwar eng, aber sehr wahrscheinlich groß genug ist. Mama fährt ein großes Auto. Sie hat Pferde, braucht das große Auto, um den Anhänger zu ziehen. Wie man aus den Pferden und dem Auto mit Anhängerkupplung einigermaßen schließen kann, ist Mama eine zupackende Frau. Sie hat meine Schwester und mich so gut wie alleine großgezogen, kann Lampen anbringen, Hochbetten aufbauen, Wände streichen, Äste absägen, Reifen wechseln, das große Auto fahren – und bis vor kurzem konnte sie es auch noch überall einparken. 

Was dann passierte, weiß ich nicht genau. Jedenfalls wurde aus meiner Mutter mit der „Yes we can“-Mentalität schrittweise ein seltsam zaghaftes, unsicheres Wesen. Ein Wesen, wie ich es gewesen war, bevor Mama mir alles beigebracht hatte, was sie auch konnte. Von Beginn an haben sie und mein Vater mir Optimismus eingebläut. Ich sollte nicht zögern und zweifeln, ich sollte versuchen und wieder aufstehen, wenn ich scheiterte.

Meine Mutter hat mich ziemlich oft von ihren Pferden fallen sehen und immer wieder aufsteigen lassen. Sie hatte mir meine Versagensängste genommen und Zuversicht vermittelt. Und nun traute sie sich eine enge Parklücke nicht zu?  

Das Parkplatzdrama war nur eins von vielen und meine Mutter nicht die Einzige, die diese Negativhaltung entwickelte. Es schien also nicht direkt etwas mit ihrem Geschlecht oder ihrer Persönlichkeit zu tun zu haben. Denn auch mein Vater wurde mit zunehmendem Alter immer mehr zum nörgelnden Nichtskönner. Seine Finger fand er für die iPhone-Tastatur zu dick, ohne Navi konnte er sich in einer fremden Stadt nicht mehr zurechtfinden und ohne meine Hilfe kein WLAN einrichten. Ob das wirklich stimmte, weiß ich nicht, denn er probierte es erst gar nicht aus. Sondern sagte einfach: „Ich kann das nicht“, „Das konnte ich noch nie“ oder „Dafür bin ich zu alt“.  

Diese Einstellung fand ich nicht nur bemitleidenswert, sie beunruhigte mich auch zunehmend. Wie konnten diese Personen, die jahrelang meine persönlichen Cheerleader gewesen waren, jetzt vor einem Lenkradschwung oder einem kleinen Touchscreen kapitulieren? Wie hatten sie mich zu einem selbstsicheren und selbstständigen Menschen erzogen, wenn sie das augenscheinlich selbst nicht (mehr) waren?

Vielleicht waren meine Eltern nie wirklich zuversichtliche Menschen gewesen

Hatte schlichtweg das Leben sie gelehrt, dass es bequemer war, eine größere Parklücke zu finden, als irgendwen von ihren Einparkqualitäten zu überzeugen? Waren es die vielen kleinen und großen Misserfolge gewesen, die ihnen schließlich den Mut genommen hatten? Spielte gar die Erkenntnis, wie „wenig“ Zeit ihnen noch blieb, mit hinein? Oder fehlten ihnen am Ende ihren eigenen Cheerleader, meine inzwischen verstorbenen Großeltern, für den seelischen Support?

Ein anderer Gedanke, noch beunruhigender: Vielleicht waren meine Eltern nie wirklich zuversichtliche Menschen gewesen. Vielleicht hatten sie mir in Wahrheit jahrelang nur etwas vorgespielt, um meinen kindlichen Optimismus zu fördern. Und nun fehlte ihnen die Energie, um diese Fassade vom Stehaufmännchen weiter aufrecht zu erhalten. 

Neben den Gründen für ihr Verhalten beschäftigten mich auch dessen Auswirkungen auf mich. Meine Eltern waren für mich immer noch Vorbilder. Daher löste ihr neuentdeckter Pessimismus auch bei mir nie gekannte Unsicherheiten aus. Dieses ganze Negativ-Denken war höchstansteckend. Vor Herausforderungen gestellt, hatte ich plötzlich ihr Klagen in den Ohren und traute mir selbst immer weniger zu.

Allein in Gegenwart meiner Eltern spielte ich weiterhin die Optimistische und versuchte, sie stets zu ermutigen und von ihrem Können zu überzeugen: „Mama, Papa – ihr schafft das!“ Der Rollentausch war perfekt. Am Anfang machte es mir sogar Spaß, sie aus der Reserve zu locken und mich an ihren Erfolgserlebnissen zu erfreuen. Auf Dauer merkte ich allerdings, wie anstrengend das Cheerleader-Dasein war und dass es keinesfalls dazu führte, dass meine Eltern wieder zu eigenständigen Optimisten wurden. Ganz im Gegenteil, es schien schlimmer zu werden.

Ich gab auf, ohne das Gefühl zu haben, dass Papa irgendwas gecheckt hatte

Also sprach ich das Thema an. Bei einem Spaziergang erläuterte ich meinem Vater, warum mich der Haltungswandel, den ich an ihm und Mama beobachtet hatte, so störte. Papa fand das interessant. Vor allem aber war er auch der Meinung, dass Mama immer verzagter, besorgter und überhaupt „wie Oma“ werde. Das Gespräch lief also in eine total falsche Richtung. Ich gab auf, ohne das Gefühl zu haben, dass Papa irgendwas gecheckt hatte.

Doch anscheinend hatte er. Denn am Abend schien er mir plötzlich etwas beweisen zu wollen. Es war der letzte Tag eines langen Wochenendes mit meinem Vater. Ich sollte ihm seinen neuen Laptop erklären und hatte es lange hinausgezögert, wohlwissend, dass ich nur wenige Minuten hatte, bevor er stöhnend aufgeben würde. Zu meiner Überraschung tat er dann aber genau das nicht. Stattdessen hörte er mir aufmerksam zu, wischte eifrig auf dem Touchpad herum und erklärte mir schließlich, wie „kinderleicht“ das doch alles sei.   

Keine Woche später traf ich Papa wieder. Er hatte den Laptop mitgebracht. Den Internetbrowser, so Papa, habe er zwar öffnen können, aber dann nicht gewusst, wo er sein Benutzerkennwort eingeben muss (den Schritt konnte er überspringen, denn ich hatte ihm eine automatische Anmeldung eingerichtet). Es war rührend. Natürlich half ich ihm. Denn Papa konnte zwar immer noch nicht alles, aber diesmal hatte er zumindest alles versucht.

Anm. der Redaktion: Dieser Artikel erschien das erste Mal am 15.05.2017 und wurde am 11.03.2021 noch einmal ausgespielt.

Die Autorin dieses Textes will lieber anonym bleiben. Denn wenn es um Kleidung flicken und Kühlwasser nachfüllen geht, sagt sie zu ihren Eltern gerne mal „ich kann das nicht“. Allerdings mehr aus Faulheit als aus Pessimismus.

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