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Der Fahrdienst der Eltern ist der schönste Liebesbeweis

Illustration: Julia Schubert

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Vor einigen Jahren bin ich von zu Hause ausgezogen und vieles ist seitdem nicht mehr so wie früher. In meinem alten Kinderzimmer wurde die Wand durchgebrochen. Einige meiner Schulfreunde wohnen jetzt in Leipzig und Berlin. Aber eine Sache hat sich nie geändert: Wenn ich in der Heimat zu Besuch bin, fährt mich mein Vater überall hin. Das war so, als ich 14 war. Es ist heute so, mit fast 30. Und ich hoffe, dass es für immer so bleibt.

Mein Vater holt mich ab, wenn ich nachts in der Straßenbahn eingeschlafen bin und an der Endhaltestelle aufwache. Mein Vater holt mich ab, wenn mein Zug zwei Stunden Verspätung hat und mir der letzte Anschlussbus vor der Nase wegfährt. Wann immer ich vom Verkehr abgeschnitten bin und nicht mehr nach Hause finde, hält er mir wenige Minuten später die Beifahrertür auf.

Erst als Erwachsener verstehe ich, was für eine große Geste es ist

Der elterliche Fahrdienst ist mehr als eine bloße Gefälligkeit. Er gehört zu den schönsten Liebesbeweisen in einer Eltern-Kind-Beziehung. Und damit meine ich nicht die übereifrigen Helikopter-Mütter und -Väter, die ihre Grundschulkinder direkt auf den Schulhof kutschieren – aus Angst um ihre Zerbrechlichkeit. Ich meine jene Eltern, die auch ihre längst volljährigen Kinder noch fahren, obwohl diese genauso gut auch ein Taxi oder eine mobile Freundin anrufen könnten. Erst als Erwachsener verstehe ich, was für eine große Geste es ist, dass mein Vater mich auch heute überall hinfährt. Obwohl er gerade noch die Füße ausstrecken und sein Feierabendbier öffnen wollte.

In Deutschland wohnt heute mehr als jeder fünfte Erwachsene mindestens 100 Kilometer entfernt von seinen Eltern. Mit dem ICE und der Mitfahrgelegenheit kann sich zwar jeder  Mensch zurück zum Heimatbahnhof transportieren lassen. Aber erst der elterliche Fahrdienst bringt jene, die in der Vorstadt und im Dorf aufgewachsen sind, wieder mit ihren Eltern zusammen. Geografisch. Und vor allem emotional.

Mein Vater und ich telefonieren nicht täglich miteinander, sondern eigentlich nur dann, wenn es um etwas rational Wichtiges geht. Versicherungen, Altersvorsorge, Terminabstimmungen für den Geburtstag von Oma. Im Auto ist es anders. Sitzen wir nebeneinander, kommen wir schnell ins Gespräch. Ich entschuldige mich für die Fahne von der Feier am Vorabend, die ihm schon beim „Hallo“ aufgefallen sein muss. Er winkt nur ab – macht ja nix – und erzählt von den Alkohol-Geschichten seiner Jugend. Mein Vater legt eine CD von Led Zeppelin ins Laufwerk, von der er weiß, dass sie mir auch gefällt. Während wir über die Landstraße und über dunkelgelbe Ampeln fahren, berichtet er von der neuesten Baustellen in der Innenstadt, die er kenntnisreich umkurvt und macht dann einen Exkurs darüber, wie sich die Gegend seit meinem letzten Heimatbesuch verändert hat. Ich erfahre, worüber sich mein Vater freut und ärgert, und erkläre ihm, wie es in letzter Zeit in meinem neuen Zuhause zugeht. Wenn wir am Ziel sind, bedanke ich mich und umarme ihn.

Vielleicht kommt die Magie des Fahrdienstes daher, weil er vergleichbar ist mit Spaziergängen, über die man auch sagt, sie wären gut für das gegenseitige Verständnis. Im Auto sitzend hat man, wie beim Nebeneinanderherlaufen, dasselbe Tempo unter den Füßen und die gleiche Bundesstraße vor Augen. Der Blick, mit dem man die Welt wahrnimmt, ist auf einmal synchronisiert.

Der elterliche Fahrdienst trägt zur Versöhnung der Generationen bei

Mein Vater und ich, wir leben mittlerweile jeder ein eigenes Leben. Das heißt auch, dass ich mich von ihm emanzipiert habe. Zuneigung ist jetzt nur noch etwas Gewolltes, und nichts Notwendiges mehr. Die geöffnete Beifahrertür wirkt da wie eine ausgestreckte Hand. Die Gewissheit, jederzeit ins Auto steigen zu dürfen, wenn man eigentlich alt genug ist, um sich ab und an ein Taxi zu leisten, fühlt sich nach Geborgenheit an, die vielleicht nur Eltern vermitteln können. Zumindest habe ich mich noch nie getraut, einen Freund danach zu fragen, mich auf eine Party zu fahren, zu der er selbst nicht eingeladen war.

Ganz nebenbei trägt der elterliche Fahrdienst zur Versöhnung der Generationen bei. In der Stadt, in der ich mittlerweile lebe, kann ich per App ein halbes Dutzend Fortbewegungsmittel herbeirufen, ohne ihr Eigentümer sein zu müssen. Den meisten jüngeren Erwachsenen ist, wie mir, das Auto heute ohnehin völlig egal. Bei wenigen Themen liegen mein Vater und ich so weit auseinander wie bei unserer Meinung zu Autos. Er liebt sie, ich könnte mich mit Carsharing für alle begnügen. Aber in der Vorstadt meiner Heimat bin ich ohne eigenes Fahrzeug so mobil wie eine auf den Rücken gedrehte Landschildkröte. Sitze ich dann neben meinem Vater im Auto, verstehe ich nicht nur die Vorteile von Fahrzeugen (sie bringen einen überall hin) ein wenig mehr. Ich verstehe vor allem ein wenig mehr über meinen Vater, der einfach Spaß daran hat, Auto zu fahren.

Weil der elterliche Fahrdienst eine Brückentechnologie ist, wird seine Zeit irgendwann vorbei sein. Jedenfalls dann, wenn meine Generation selbst einmal Kinder, aber noch immer keine Autos hat. Dann wird vielleicht auch in den Vorstädten die Verkehrswende geschafft sein. Aber wäre das nicht auch ein wenig schade? Mein Vater sollte sich den Mai 2038 in seinem Kalender notieren. Dann ist das 30-jährige Klassentreffen meines Abiturjahrgangs. Ich hoffe sehr, dass er mich dann abholt.

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