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Kann man bei solchen Bildern noch zufrieden in ein Wurstbrot beißen?

Foto: Dimitar Dilkoff /AFP

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jetzt: Professor Lamm, als die Flüchtlinge noch an deutschen und österreichischen Bahnhöfen und Grenzen standen, waren wir alle betroffen. Jetzt hängen sie im griechischen Idomeni fest und man hat das Gefühl, das wird allen immer egaler. Was ist kaputt mit uns?

Prof. Claus Lamm: Nix ist kaputt, das ist alles so, wie es sein soll. Aus humanistischer Perspektive ist das natürlich keine angenehme Feststellung, aber Empathie hängt nun einmal von vielen Faktoren ab. Einer davon ist meine persönliche, geografische und kulturelle Nähe zu einem Ereignis. Wenn ich die Flüchtlinge also in einem Kontext sehe, den ich selber kenne, in diesem Fall der deutsche Bahnhof oder Grenzübergang, nehme ich das als relevanter für mich wahr als eine Stadt in Griechenland. Bei der griechischen Stadt kümmere ich mich also auch weniger darum. In der Fachliteratur spricht man dabei vom „Parochial Altruism“.

Was bedeutet dieser Begriff?

Das Wort „Parochie“ stammt von der christlichen Gemeinde. „Parochial Altruism“ bedeutet also in etwa, dass mir „meine Gemeinde“ immer am nächsten ist. Für diese Personen zeige ich viel Einsatz. Für Gemeinden, die in einem anderen Dorf oder Land sind, hingegen weniger.

Nun kann ich mittlerweile durch die Medien über mein eigenes Dorf hinausschauen. Hungernde Menschen in Idomeni, Tote aus Aleppo – das alles sehen wir im Fernsehen und Internet. Warum kann man diese Bilder anschauen und dabei trotzdem noch zufrieden in sein Wurstbrot beißen?

Die Medien zeigen mir ja auch nur etwas, das weit weg von mir ist. Die Bomben fallen nicht vor meiner Haustür. Mit meinem Biss ins Wurstbrot halte ich weitere Emotionen von mir fern. Meine Routine geht ja trotz des Krieges weiter. Die Bilder in den Medien sind also nur Informationen für mich, sie beeinträchtigen nicht mein Leben. Es gab einmal in österreichischen Medien einen interessanten Versuch: Dort hat man die Ereignisse aus Syrien auf Österreich übertragen. „Bomben in der xy-Straße in Aleppo“ wurde zu „Die Simmeringer Hauptstraße im 11. Bezirk steht unter Beschuss.“ Um den Lesern zu zeigen, wie es wäre, wenn dieser Krieg auf einmal bei ihnen vor der Haustür stattfinden würde. Und tatsächlich waren die Leser auf einmal viel betroffener, sie konnten sich mehr in die Situation der Syrer hineinfühlen.

Beschäftigen uns deshalb auch Terroranschläge in Paris und Brüssel mehr als in Nigeria?

Ja, aber nicht nur deshalb. Bei diesem Beispiel geht es nicht nur um Altruismus, sondern auch um die persönliche Gefahr, die von den Informationen ausgeht. Nach Brüssel dachten viele Menschen: „Beim nächsten Mal kann es jetzt auch mich treffen.“ Man hat also nicht nur mit den Betroffenen mitgelitten, sondern auch ein reales Katastrophenszenario beziehungsweise eine potentielle Bedrohung für sich selbst gesehen.

Wie definieren Sie als Neurowissenschaftler und Psychologe „Empathie“?

Meine Definition wäre: Empathie ist die Fähigkeit, das zu fühlen, was andere fühlen. Diese Definition ist allerdings anders als im Alltagsgebrauch. Dort hat „Empathie“ automatisch eine starke Mitleids- und Hinwendungskomponente. In der Wissenschaft trennen wir das. Dort gibt es auch die Fähigkeit zu fühlen, was andere fühlen, ohne direkt davon betroffen zu sein – also Empathie als Fähigkeit zur Informationssammlung. Der Wunsch, aus diesem Mitgefühl heraus anderen zu helfen, geht darüber noch einmal hinaus.

Haben Sie ein Beispiel für diese zweigeteilte Definition?

Nehmen wir das Beispiel eines Fussballspiels. Wenn ein Trainer weiß, was einem Gegner besonders „weh tut“, dann kann er seine Mannschaft genau daraufhin einstellen. Also hohe Empathie, null Mitgefühl.

Claus Lamm ist Professor für biologische Psychologie an der Universität Wien. Er forscht dort mit einem interdisziplinären Ansatz zwischen Neurowissenschaft und Psychologie zum Thema Empathie.

Uni Wien

"Sie können Probleme nicht lösen, in dem sie den Fernseher ausschalten oder in ihr Wurstbrot beißen."

 

Kann man Empathie denn lernen?

Ja, es gibt dazu verschiedenste Forschungsprojekte. Schon lange bekannt ist etwa die Methode der „Perspektivenübernahme“. Das funktioniert so, dass ich kognitiv feststelle, dass ich gerne mehr Mitgefühl mit den Menschen hätte, meine Distanz zu diesen aber dazu führt, dass ich nichts an meinem Leben ändere. Dann versuche ich aktiv, mich in die Gefühlssituation des anderen hineinzuversetzen – auf Englisch heißt das so schön „to put oneself in the other's shoes“. Ich stelle mich also imaginär in die Person hinein und sehe dadurch die Welt aus deren Augen. Das löst oft ganz starke Empathie aus, und daraus entsteht dann auch ein Gefühl der Betroffenheit. Diese Variante kann jeder für sich privat ausprobieren – das Resultat muss man dann allerdings auch aushalten.

 

Ist fehlende Empathie also nicht automatisch etwas Schlechtes, sondern auch ein Schutzmechanismus?

Genau. Wir sind in all unseren Ressourcen begrenzt, das gilt auch für Empathie und Mitgefühl. Ich kann nicht allen Menschen helfen, und deshalb reduzieren wir wohl oft auch – bewusst und unbewusst - unser Mitgefühl. Hyperempathische Menschen geraten deshalb auch schnell an ihre Belastungsgrenze.

 

Wenn Sie sagen, dass man Empathie lernen kann – spielen die Gene dann also gar keine wichtige Rolle?

Doch. Die Empathiefähigkeit hat eine starke genetische Komponente, allerdings wird sie auch durch Umweltfaktoren beeinflusst. Das ist für mich eine wichtige Botschaft: Nur, weil jemand „unempathisch“ geboren wird, muss er es nicht sein Leben lang bleiben. Das kann man trainieren. Umgekehrt gilt allerdings auch: man kann sich Empathie und Mitgefühl auch abtrainieren.

 

Auch wenn Sie als Neurowissenschaftler jetzt nicht für Moralfragen zuständig sind – würden Sie sich mehr Empathie in der Gesellschaft für die Menschen in Idomeni wünschen?

Ich würde mir wünschen, dass die Menschen mit ihrer Empathie konstruktiver umgehen. Dass sie Probleme nicht lösen, in dem sie den Fernseher ausschalten oder in ihr Wurstbrot beißen. Sondern, dass sie ihre Gefühle zulassen um dann auch adäquater auf andere Menschen reagieren zu können. Das erfordert allerdings dass man lernt, sich von seinen Gefühlen nicht reflexartig dominieren zu lassen.

 

Sich allein von Gefühlen leiten zu lassen, gilt allerdings auch als schlecht...

Man muss seine Gefühle reflektieren können, damit daraus eine die Bedürfnisse des Gegenübers optimal berücksichtigende Handlung resultieren kann. Bezogen auf die Flüchtlinge könnte das zum Beispiel bedeuten, nicht nur den Fokus auf das Leiden der einzelnen Flüchtlinge und die kurzfristige Reparatur deren Leidens zu legen. Sondern sich zu überlegen, welche Maßnahmen von der internationalen Politik gefordert werden könnten, damit eine Flucht aus der Region etwa gar nicht mehr erforderlich ist.

 

Kann aus der Empathie einzelner Personen also auch so etwas wie eine gesellschaftliche Empathie erwachsen?

Das würde ich so sehen, ja. Ich würde aber hier eben von Mitgefühl sprechen. Das was eine Gesellschaft ausmacht, ist ja immer die Summe der Individuen, und meistens noch kommt dann da noch etwas dazu. Je mehr Mitgefühl wir also kultivieren und zulassen, desto mitfühlender wird auch unsere Gesellschaft. 

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