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„Ich wollte über Nudeln reden, sie über Probleme“

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Seit zwei Jahren lerne ich Italienisch. Weil ich das Land und die Sprache mag, weil ich mich für die italienische Küche und Kultur interessiere und weil ich mal wieder ohne Zwang etwas für mich ganz Neues lernen wollte. Dabei stieß ich irgendwann auf „Tandem“, eine App, die sowas wie eine Kontaktbörse für Sprachenlernende ist. Dort kann ich Italiener finden, die Deutsch lernen wollen und die sich mit mir im Gegenzug auf Italienisch unterhalten. Wie das Tandem-Prinzip im echten Leben. Nur eben, dass man seine Sprachpartner immer in der Hosentasche dabeihat und dass sie nicht im Einzugsbereich derselben Volkshochschule, sondern in Neapel, Rom oder Verona leben.

Ich fand schnell Kontakte zu jungen Italienern und probierte mich in belanglosem Smalltalk. Ich wollte übers Wetter reden, über Musik, die mir gefällt und vielleicht noch über Nudelrezepte. Hauptsache schreiben und sprechen. 

Meine Gesprächspartner aber schienen ganz andere Dinge mit mir diskutieren zu wollen: ihre Lebenssituation, ihre Zukunftspläne und vor allem die Möglichkeiten, so schnell wie es nur irgendwie geht nach Deutschland auszuwandern. Noch nie habe ich mit Menschen gesprochen, die ihre Heimat so sehr lieben und doch einen so verzweifelten Drang verspüren, sie zu verlassen, wie in meiner Zeit mit Tandem. Eigentlich wollte ich nur eine Sprache lernen, war aber schnell mit existenziellen Problemen konfrontiert.  „Ich lebe im schönsten Land der Welt, aber was soll ich hier nur tun, ohne Arbeit?“ war der Satz, den ich am häufigsten zu hören bekam. Oft schon nach den ersten fünf Minuten.

Einer meiner ersten Freunde im Sprach-Lern-Kosmos war Marcello, 24 Jahre alt. Er hatte den Absprung schon geschafft. War vor einem Jahr aus Sizilien nach Berlin gekommen und schlug sich dort mit Gelegenheitsjobs durch. „Alles besser als zu Hause“ erzählte er mir, als ich ihn im Sommer in Berlin auf einen Kaffee traf. Außerdem könne er hier in Ruhe an seinem Fantasy-Roman schreiben, von dem er noch nicht mal wisse, ob er fertig, geschweige denn ob er jemals veröffentlicht werden würde. Aber immerhin war Marcello raus aus Italien.

Eines Nachts schrieb mir Massimo, 25 Jahre alt. Er fand mich, weil er nach Leuten in seiner Umgebung suchte und über Umwege vor ein paar Wochen in München gestrandet war. Vor lauter Perspektivlosigkeit war er aus seiner Heimat regelrecht über Nacht geflohen und arbeitete jetzt als Spüler in einem italienischen Restaurant im Münchner Westend. Für drei Euro die Stunde auf die Hand, Gemeinschaftsunterkunft über der Küche inklusive. Er wollte von mir wissen, ob das so normal sei in Deutschland. Ob er bessere Chancen habe, wenn er die Sprache lernte. In Erzählungen habe er ganz andere Dinge von München gehört. Ich wusste nicht, was ich ihm antworten sollte. Ich fühlte mich schlecht und zu Unrecht bevorzugt, während ich in meiner sauberen Wohnung voller schöner Möbel auf dem Sofa saß und mir vorstellte, dass er vielleicht drei Straßen weiter für einen Sklavenlohn die Teller spülte, von denen ich meine Pizza aß. Also brach ich nach wenigen Nachrichten den Kontakt ab.

Manche hofften weiter auf die Reformen der neuen Regierung. Viele, besonders die Jungen, scheinen lieber gleich die Flucht anzutreten.

Die Leute, mit denen ich auf Tandem sprach, waren genauso alt wie ich und führten eigentlich ein ganz normales Leben. Nur eben ein paar Kilometer weiter südlich. Trotzdem waren die Unterschiede gewaltig. Ich sprach mit jungen Menschen, die die App nicht installiert hatten, um im Urlaub in einer fremden Sprache Eis und Kaffee zu bestellen. Sie arbeiteten damit an ihrer persönlichen Zukunft. Erst jetzt wurde mir klar, wie sehr sich ihre Motivation von meiner unterschied. Wie es den jungen Leuten geht, die ich im Urlaub in kleinen Gruppen am Strand sitzen sehe und deren Leben ich so romantisch verkläre. Klar, Italien, das ist für uns immer frisches Gemüse, viel Sonne und die schönsten Landschaften der Welt. Aber es ist auch Verzweiflung und eine so große Zerrissenheit, dass man sie sogar durch die Chat-Oberfläche einer kostenlosen App spüren kann.

Die Arbeitslosenquote in Italien war 2015 so hoch wie nie zuvor. 13 Prozent der Menschen waren ohne Job. Das ist ein trauriger Rekord, der das Land auf Platz vier der Arbeitslosigkeits-Liste aller OECD-Länder brachte. Trotz eines hohen Durchschnittseinkommens ist die Diskrepanz zwischen arm und reich höher als in vielen anderen Ländern. Und das trifft nicht nur den von der Krise am stärksten gebeutelten Süden. Veränderungen passieren nur langsam. Manche hofften weiter auf die Auswirkungen der angekündigten Reformen der neuen Regierung. Nur ist die so neu auch nicht mehr. Viele, besonders die Jungen, scheinen lieber gleich die Flucht anzutreten.

Zum Beispiel die 19-jährige Chiara aus Verona, die mich nach drei Nachrichten bei Tandem darum bat, ihr deutsches Bewerbungsschreiben Korrektur zu lesen. Sie hatte wenige Tage später ein Bewerbungsgespräch bei der Lufthansa und wollte diesen Job um jeden Preis, weil – wie sie glaubte – ihre gesamte Zukunft davon abhinge. Ihr Brief war nahezu fehlerfrei und ich wünschte, mein Italienisch wäre nur annähernd so gut. Aber sie wollte noch besser werden und schickte mir immer mehr Sätze und Texte, damit ich auch noch ihre letzten Fehlerchen ausbesserte. Sie wollte perfekt sein für ihren Traum vom Leben in Nordeuropa. Was aus ihrer Bewerbung wurde, habe ich nie erfahren.

Ihre Zerrissenheit war in jedem Satz zu spüren

Auch Maria, 18, aus einem Vorort von Neapel, träumt von einer glücklichen Zukunft. Sie ist jetzt schon seit Monaten meine Lernpartnerin und wird in ein paar Wochen die Schule beenden. Am liebsten würde sie dann Sprachen studieren, irgendwo im Norden, außerhalb Italiens. Das erzählt sie mir immer wieder, in vielen langen Chat-Nächten. Doch ihr Vater gehört zu den wenigen im Mezzogiorno, die es geschafft haben, aus dem Nichts eine erfolgreiche Firma aufzubauen. Und er hat sie schon jetzt fest als Nachfolgerin eingeplant. Wenn es nach ihm geht, soll sie Wirtschaft studieren, am besten in Neapel, damit der Stolz der Familie gesichert ist und er sie schon jetzt einarbeiten kann. Sie wäre dadurch eine der wenigen, die sogar eine gesicherte Zukunft in ihrer Heimat haben könnte, auch wenn sie dafür all ihre Träume und Interessen aufgeben würde. Das will sie nicht. Also lernt sie mit mir Deutsch, obwohl sie ihr Gewissen gegenüber der Familie plagt. Und sie hat sich heimlich schon für eine Sprachuni in Norditalien beworben, damit sie den Absprung später leichter schafft. Immer wieder schickt sie mir romantische Postkartensprüche, die sagen, dass man seinen Traum leben soll und nur das arbeiten sollte, was einen vollkommen erfüllt. Ihre Zerrissenheit ist in jedem Satz zu spüren.

Immer wieder höre ich kluge Menschen sagen, dass sie „Europäer“ sind. Dass sie keiner Nation, sondern einem Kulturkreis angehören. Auch mir gefallen der europäische Gedanke und die Möglichkeiten, die sich mir zum Beispiel durch offene Grenzen bieten. Ich finde es großartig, dass ich in wenigen Stunden nach Mailand fahren, gut essen gehen und in derselben Währung wie zu Hause bezahlen kann. Im letzten Sommer habe ich mich nach dem Frühstück ins Auto gesetzt und war nachmittags in einer Pizzeria an der adriatischen Küste. Für mich bedeutet das Freiheit.

Doch diese Freiheit funktioniert nur in eine Richtung. Für die Menschen auf der anderen Seite macht sie zwar ihre Träume konkreter und greifbarer, zeigt ihnen aber zugleich umso brutaler, wie weit sie doch von ihnen entfernt sind.
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