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Zerbricht Europa?

Foto: Katharina Bitzl

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Vielleicht muss diese Geschichte bei meinem Opa anfangen. Opa ist 86 und sich sehr bewusst, dass das recht alt ist. Als wir neulich bei Mohnkuchen bei ihm saßen, sagte er: „Das hat aber auch etwas Gutes. Ich muss zum Beispiel nicht mehr erleben, wie die EU zerfällt.“

Mich hat das entsetzt. Zum einen, weil es so unausweichlich klingt. Kein „Ich mache mir Sorgen“, kein „Ich hoffe, dass…“. Sondern eine Tatsachenbehauptung: Bald ist es vorbei. Mit etwas, das für mich doch immer so selbstverständlich erschien. Geld in Frankreich umtauschen? Kofferaum öffnen an der Grenze zu Dänemark? Das sind für mich Erzählungen aus grauer Vorzeit. Ich habe ja schon das Gefühl, dass irgendetwas kaputt ist, wenn ich in der EU mal meinen Pass vorzeigen muss.

Was mich aber noch mehr entsetzt hat, war mein eigener Gedanke: Was, wenn Opa recht hat?

Beim Thema "EU" fühle ich mich wie ein angehendes Scheidungskind

Tatsächlich läuft es momentan ja nicht so richtig rund in Europa: An ehemals grünen Grenzen stehen jetzt Zäune, nationalistische Parteien haben immer mehr Zulauf und die Briten stimmen im Juni sogar über den Brexit, also ein mögliches Ausscheiden aus der EU, ab. Gleichzeitig sagte Bundesinnenminister Thomas de Mazière vergangene Woche im österreichischen Rundfunk „Ende gut, alles gut“, weil jetzt zumindest die Grenzkontrollen zu Österreich wieder abgeschafft werden sollen.

Ich fühle mich beim Thema EU wie ein angehendes Scheidungskind. Die Eltern sagen einem, dass alles in bester Ordnung sei, und gleichzeitig will Papa auf einmal eine eigene Wohnung haben. Merkt das denn keiner? Wie schlimm steht es wirklich um Europa und die EU?

Um darauf eine Antwort zu finden, muss man sich natürlich erst einmal fragen, was sinnvolle Indikatoren sind, um das zu messen. Funktioniert Europa, wenn seine Bewohner zufrieden sind? Wenn es wirtschaftlich bergauf geht? Oder wenn sich alle als Europäer anstatt Deutsche, Belgier und Italiener fühlen?

Ich telefoniere für diese Frage mit Daniel Göler, Professor für europäische Politik an der Universität Passau. Göler ist „begeisterter Europäer“, das muss man vielleicht vorneweg sagen, und natürlich sagt er auch, dass man die Stabilität Europas nicht mit naturwissenschaftlichen Maßstäben messen könne. Aber, und das ist interessant: Er spricht automatisch als erstes davon, dass die europäischen Institutionen, also beispielsweise das EU-Parlament und die Kommission, sehr gut funktionieren würden. „Bei dem vielen EU-Bashing, das momentan betrieben wird, wird das oft vergessen: Viele europäische Probleme, die wir gerade diskutieren, werden durch ein Versagen der Nationalstaaten verursacht, nicht durch die europäischen Institutionen.“ Als Beispiel, und das leuchtet mir ein, führt er die Flüchtlingskrise an: „Die Kommission wollte da schon vor Jahren reformieren und hat bereits 2011 eine verstärkte EU-interne Solidarität im Asylbereich gefordert. Es waren die Mitgliedsstaaten, die europäische Solidaritäts- und Umverteilungsmechanismen verhindert haben, insbesondere die deutsche Bundesregierung, die immer wieder darauf gepocht hat, dass die Dublin-Regelung weiter in Kraft bleibt“, sagt Göler. Das war ja damals auch bequem. Die Flüchtlinge blieben in den Ankunftsländern, damals primär Italien und Griechenland. Als sie dann doch an der deutschen Grenze standen, war natürlich die EU schuld. Die hatte in ihrem bürokratischen Wahn nichts geregelt.

Ist dieses Gefühl, dass in Europa was kaputt ist, also eigentlich eher ein lamentieren über „die da oben“ weil man nicht vor der eigenen Haustür gucken möchte? Professor Göler sieht hier tatsächlich eine längere Entwicklung, die mit dem Vertrag von Maastricht 1992 begann: „Von da an hat die EU sich politisiert. Es ging nicht mehr nur um technische Fragen eines Binnenmarktes, sondern zunehmend auch um politisch kontroverse Themen, wie die Asyl- und Einwanderungspolitik, soziale Standards und die Frage, wie viel Solidarität wir mit anderen Ländern zeigen wollen.“ 

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Konkret meint er: Auf einmal wirkten EU-Entscheidungen auch in den Alltag der Menschen hinein. Und insbesondere bei akuten Krisen wird das spürbar. Die Griechenlandfrage ist dafür ein gutes Beispiel. Auf einmal wurde leidenschaftlich in der Bevölkerung diskutiert, ob Deutschland den Griechen jetzt noch einmal Milliarden geben oder sie vielleicht doch sich selbst überlassen sollte und inwiefern die EU mit ihren Rettungsschirmen da nicht gerade ihre Kompetenzen überschreitet. Eine Diskussion über abstrakte Themen wie eine Zollverordnung zwischen Griechenland und Deutschland wäre sicher nicht so leidenschaftlich geführt worden. Aber Milliarden für ein anderes Land, nur weil man Mitglied im gleichen Verein ist, das können sich alle vorstellen. Und dementsprechend gab es da auf einmal auch mehr und lautstarken Widerspruch gegen die EU.

 

Könnte das im Umkehrschluss nicht auch bedeuten, dass viele Menschen erst jetzt begriffen haben, was EU, abgesehen von Reisefreiheit und gleicher Währung, eigentlich heißt? Und beschlossen haben, dass sie das nicht wollen? Zumindest die Wahlerfolge für nationalistische Parteien machen mir da Sorgen. AfD, der französische Front national, UK Independence Party oder auch die polnische Regierungspartei PiS – sie alle gewinnen ihre Wähler ja mit europakritischen Positionen.

 

63 Prozent der Deutschen sagen, dass sie „eher nicht“ in die EU vertrauen würden. Für mich klingt das düster

 

Professor Göler sieht diesen Trend als weniger groß als ich. „Wenn man mal in das europäische Parlament schaut, machen die EU-kritischen Parteien nur einen kleinen Anteil aus. Und auch wenn der aktuelle Erfolg der AfD in Deutschland auf den ersten Blick beunruhigend erscheint, muss man bedenken, dass das Fehlen einer eurokritischen und rechtspopulistischen Partei im europäischen Vergleich eher eine Ausnahme war.“ Tatsächlich hat die EU-skeptische Fraktion im Parlament aktuell 45 Mitglieder – von insgesamt 751. Dass die EU aus ihren Institutionen heraus implodiert, ist derzeit also eher unwahrscheinlich.

 

Trotzdem muss man auch sagen – Professor Göler kann natürlich nur vom Ist-Zustand berichten. Aber was ist mit der Zukunft der EU? Immerhin sagten vergangenes Jahr 63 Prozent der Deutschen, dass sie „eher nicht“ in die EU vertrauen würden. Für mich klingt das eher düster – wobei Tom Reutemann, 26, es auch schafft, daran etwas Positives zu finden: „Diese Zahl ist ja seit Jahren konstant schlecht, durch die aktuellen Krisen wurde es nicht schlimmer“, sagt er am Telefon.

Ich habe Reutemann angerufen, um ein bisschen nach vorne schauen zu können. Er studiert in Berlin Europawissenschaften, ist also jemand, der sich potenziell auch zukünftig für Europa einsetzen könnte. Aber ist das stellvertretend für seine Generation?

 

In Reutemanns Studiengang wird seit Kurzem ein Projekt namens „Generation Europe“ vorangetrieben. Dafür haben die Studierenden 120 Menschen unter 35 unter anderem gefragt, ob ihnen ein vereintes Europa möglich und notwendig erscheinen würde. Der Begriff „vereintes Europa“ ist natürlich sehr vage, aber Tom sagt, das sei bewusst gewählt – um zu schauen, was die Menschen darunter verstehen.

 

Das Ergebnis: Die meisten Teilnehmer haben die Fragen automatisch auf die EU bezogen „Und die möchte niemand hergeben“, sagt Tom. Denn insbesondere das „Free Movement of persons“, also dass jeder leben darf wo er möchte, würden junge Menschen lieben. Klingt erst mal gut, schließlich sind es ja die jungen Menschen, die später die Zukunft von Europa in der Hand haben, oder?

 

Wenn man genauer hinschaut, ist es natürlich doch nicht ganz so einfach. In dem Projekt wurden primär junge Akademiker befragt, die sind meist EU-freundlicher, sagt das Eurobarometer. Tom selbst sieht das Problem auch, er spricht von einer „Disconnectivity zwischen Politikinteressierten und der breiten Bevölkerung“ – also, dass die Menschen, die sich für Politik interessieren, den Rest nicht mehr erreichen. Was könnte da eine Lösung sein? „Gezielte Informationsstrategien“, sagt Tom sofort. Aber ist das nicht auch wieder so eine Akademiker-Wunschvorstellung? Könnte man Europa wirklich retten, indem man den Menschen auf der AfD Demo erzählt, was an der EU eigentlich toll ist?

 

„Vielleicht müssen wir erst einmal lernen, die EU als streitbare Demokratie zu begreifen", sagt Student Tom Reutemann

Darüber muss auch Tom nachdenken. In den kommenden Monaten soll mit der Studie Generation What zumindest einmal repräsentativ erhoben werden, wie junge Europäer ticken. Eine Million Menschen sollen daran teilnehmen, das ist das Ziel. Nicht nur die Akademiker und Europafreunde. Vielleicht kann man daraus auch ablesen, ob dieses Gefühl, dass die EU bröckelt, tatsächlich nur „EU-Bashing“ ist, wie Professor Göler es ausdrückte. Oder ob es da tatsächlich Defizite gibt – und wie man die beheben könnte.

Student Tom Reutemann sagt am Ende unseres Gespräches dann noch einen Satz, den ich ziemlich gut finde: „Vielleicht müssen wir erst einmal lernen, die EU als streitbare Demokratie zu begreifen.“ Verstehen, dass sie eben nicht selbstverständlich ist. Dass man etwas tun muss, damit wir weiter die schönen Seiten wie freies Reisen, Handeln und Lieben genießen können. Zum Beispiel auf die Argumente der EU-Gegner („Zu teuer/ Zu langsam/ Nur andere profitieren/ Zu fremdgesteuert“) Antworten finden.

 

Diese Erkenntnis habe ich dann übrigens auch meinem Opa vorgetragen. Er hat mich dann kurz unter seinen Bürstenaugenbrauen angeschaut und dann gesagt: „Charlotte, ich bin sogar so alt, ich erinnere mich gut an die Zeit vor der EU. Und ich weiß, warum ich dort hin nicht zurück möchte.“

 

Ich hoffe, dass wir diese Erfahrung gar nicht erst machen müssen. 

 

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