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Warum ich mein Hypochonder-Image pflege

Illustration:Daniela Rudolf

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Individualisierungsgeil sind wir ja lange schon. Unsere Eltern bläuen uns von Klein auf ein: „Du, kleiner Justin, bist wirklich etwas ganz Besonderes!“ Da steckt schon ziemlicher Druck dahinter. Was, wenn Klein-Justin vielleicht gar nicht so besonders ist? Vor ein paar Jahren hätte er sich und seine Mittelmäßigkeit wahrscheinlich noch mit Alkohol und Gras betäubt. Heute peppt er sein Image einfach mit Man-Bun-Selfies oder schrägen Instagram-Stories über seine Katze auf. Nichts für mich – auf Katzen bin ich allergisch. Und die typischen Trends für den urbanen Individualisten wie Hornbrille und bunte Socken feiere ich zwar, aber eben auch gefühlte Hunderttausend andere. Wie wär’s stattdessen also mit einem skurrilen Spleen?

Meinen habe ich längst gefunden: Ich bin hysterische Gesundheitsneurotikerin. Jede Schramme am Kopf ist für mich das Indiz für einen Schädel-Basis-Bruch. Klingt nervtötend, verleiht mir aber durchaus auch ein gewisses Prestige: Auf Partys bin ich nun nicht mehr bloß die, die peinlich berührt zur Musik wippt – nein, ich bin die Verrückte, die den Mund vor anderen Gästen aufreißt und sie fragt, ob ihr Rachen gerötet ist. Damit ist das Eis definitiv gebrochen.

Landläufig würde man mich wahrscheinlich Hypochonder nennen – und die meisten tun’s auch. Da Hypochondrie allerdings ein wirklich ernstzunehmendes psychisches Krankheitsbild ist, trifft das in meinem Fall weniger zu. Zwar ist für mich jeder zu biegsame Fingernagel gleich Symptom eines Calcium-Mangels, aber da ich mittlerweile drüber lachen kann, bin ich wohl eher auf der skurril-neurotischen Seite des Hypochondertums anzusiedeln. 

I'm a creep, I'm a weirdo

Vor einiger Zeit wäre mir das noch furchtbar peinlich gewesen. Niemand ist schließlich gerne ein Weichei. Mittlerweile ist es aber mein Ding. Während andere stolz ihre Selfies mit Nerd-Brille und „#weird“ posten, kann ich mit richtig schrägem Shit auffahren: Eine Woche nach meiner Mandeloperation habe ich mich selbst wieder ins Krankenhaus eingeliefert, weil ich mir eine kleine Blutung im Hals eingebildet hatte. Natürlich stellte sich sofort heraus, dass da nichts ist. Über Nacht dabehalten haben sie mich aber trotzdem. Wahrscheinlich wegen meines hysterischen Panikmonologs über das Ersticken am eigenen Blut. Die Quittung für diese unnötige Aktion kam sofort: in Form der Krankenhausclowns. Offenbar wirkte ich trotz meiner Volljährigkeit in meinem zu großen Nachthemd unter meiner voluminösen Decke eher wie ein verdammt trauriger Pre-Teen. Also versuchten sie gefühlt mehrere Stunden lang, mich aufzuheitern, bis ich leidend und wutschnaubend zugleich hervorstieß: „Ich bin 22!“

 

Sympathisches Seltsamsein gehört ohnehin längst zum guten Ton – danke Lady Gaga! Wenn wir alles an Individualisierungsstrategien durchhaben und jeder den gleichen einzigartigen Kleidungsstil, Musikgeschmack und Job hat, bleibt uns eben nur noch das Schräge zur Selbstverwirklichung. Und was ist skurriler als irgendeine Art von Tick oder Phobie? Der Vorteil an einem Psycho-Markenzeichen gegenüber den Klassikern der Individualisten-Ausstattung: Man kann darüber sprechen – und ist gleich der selbstironische Spaßvogel auf jeder Party. Spricht man hingegen von sich aus über seinen Jutebeutel, ist das zwar auch seltsam, aber unspannend.

 

Eine meiner Freundinnen hasst zum Beispiel menschliche Berührungen, wehrt sie jedes Mal mit verzerrtem Gesicht ab und feiert ihre Macke so offen, dass sie zu ihrem Markenzeichen geworden ist. Betritt sie den Raum, muss sie sich nicht einmal mehr vorstellen. Sobald man ihr die Hand zum Schütteln oder die Wange zum Küssen hinstreckt, schallt aus irgendeiner Ecke ein bewunderndes „Nicht! Das ist doch die, die keine Berührungen mag“, gefolgt von neugierigen Fragen zu ihrer Abneigung gegen Hautkontakt. Unnahbarkeit wirkt bekanntlich sexy.

 

Mein Neurotiker-Ich inklusive dramatischem Verbluten bei jedem Wündchen ist da weniger lasziv. Detaillierte Berichte über meine halsbrecherischen Pseudo-Verletzungen erheitern aber so gut wie jede Runde. Wenn einen sämtliche Ärzte duzen und mittlerweile genervt die Augen verdrehen, wenn man wieder einmal kurz vorm Abkratzen in die Praxis humpelt, dann hat man auf jeden Fall eine Menge guter Geschichten auf Lager. Das macht den Stress, der mit einer konstant niedrigen Panikschwelle einhergeht, fast schon wett. 

 

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