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Nicht jedes Tabu muss gebrochen werden!

Illustration: Katharina Bitzl

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Sprechen wir über ein Tabuthema: das Tabu im 21. Jahrhundert. Egal, ob es sich um Abtreibungen, Fehlgeburten, die Menstruation, diverse Krankheiten, rülpsende und furzende Frauen, Inter- Homo- oder Sonstwiesexualität handelt – immer sagt oder schreibt dazu jemand sehr betroffen: Ja, das sei wohl „immer noch ein Tabu“.  

„Immer noch“, das beschreibt sehr gut, wie man heute zu Tabus steht. Nämlich ein bisschen wie vor der ehemaligen innerdeutschen Grenze: Was, da stehen immer noch so verrostete alte Schilder? Die müssen natürlich weg! Braucht ja keiner mehr. Man könnte eine ganze Zeitungsseite volldrucken mit den Google-Suchergebnissen für die Formulierung „immer noch ein Tabu“: Milchflecken vom Stillen, Familienskandale, Tod, interkulturelle Glaubensfragen, Popeln im Meeting und so weiter.

„Tabus sind da, um gebrochen zu werden!“ So lautet der Konsens unserer Zeit. Toleranz, Offenheit, „Transparenz“, das sind die großen Ideale. Jeder soll jederzeit und zu allen alles sagen dürfen und überall alles machen dürfen, wenn er denn muss oder will – außer natürlich, es hat mit Gewalt zu tun. Auf dass die Welt angesichts dieser Ehrlichkeit eine gleichberechtigtere und empathischere werde! 

Aber muss unter dem Deckmantel des „Tabubruchs“ wirklich alles mit allen geteilt und jede Intimität, jede Unannehmlichkeit breitgetreten werden? Hatten und haben Tabus nicht auch noch eine andere Funktion als Angstmacherei, Unterdrückung und Manipulation?

Die neutrale Definition von Tabu ist: ein soziales Gebote, an das man sich halten soll. Aber die Kommunikationswissenschaftlerin und Tabu-Forscherin Sabine Krajewski bestätigt, dass wir das Tabu in den modernen Gesellschaften oft ausschließlich als etwas Einengendes betrachten. Tabus, das haben wir verinnerlicht, sind vor allem Instrumente sozialer Kontrolle. Und wer auch nur ein wenig Eigensinn besitzt, lässt sich nun einmal nicht gerne kontrollieren. Hierarchien gehören hinterfragt, Machthaber gestürzt, das haben wir so gelernt. 

„Gewisse Tabus brauchen wir aber dringend“, sagt Krajewski. Sie seien die ungeschriebenen Gesetze unseres Zusammenlebens. Einige Dinge tut oder sagt man ganz einfach deshalb nicht, damit sie niemanden verletzen oder beschämen. Die meisten Tabus bedeuten vor allem Respekt vor Identität und Privatsphäre unserer Mitmenschen: „In einer Gesellschaft muss man aufeinander aufpassen“, sagt Krajewski. 

Die Menstruation ist ein gutes Beispiel für ein negatives Tabu

Aber wie unterscheidet man positive von negativen Tabus? Welche Tabus lohnen sich gebrochen zu werden, welche müssen wir bewahren? Um das herauszufinden, rät Krajewski, danach zu fragen, wen ein Tabu in erster Linie schützt. Dass man Fehlgeburten oder Schwangerschaftsabbrüche nicht publik macht, schützt die Frau davor, mit ihrem gesamten erweitertem Umfeld darüber sprechen zu müssen und das Trauma immer wieder zu triggern. Nach fünf Jahren mag sie vielleicht offener darüber sprechen, erst einmal schont sie sich durch Verschwiegenheit. Ein gutes Tabu. 

Anders bei häuslicher Gewalt: Sie zu verschweigen schützt das Opfer vielleicht vor dem Gerede der anderen und damit vor einem Stigma. Vor allem aber schützt die Verschwiegenheit hier den Täter, der unbeschadet davon kommt und das Opfer immer weiter beschädigt. Also raus damit.  

Die Menstruation ist laut Krajewski ein gutes Beispiel für ein negatives Tabu, das trotz aller Bestrebungen, es durch lustige Menstruationscomics oder -kunstwerke aufzubrechen, weiterhin besteht. Auch das ist dem Tabu eigen: Es verschwindet nicht, nur weil man es benennt. Darüber sprechen öffnet zwar den Diskurs. Bis es verschwindet vergehen aber mitunter Jahrhunderte.

Schon in der Bibel gab es ganze Kataloge darüber, was menstruierende Frauen während ihrer siebentägigen sogenannten „Unreinheit“ zu beachten hatten und nicht tun durften: kochen, Sex haben, arbeiten. Weil man die Stimmungsschwankungen der Frau während ihrer Periode fürchtete, verbot man ihr lange etwa den Job als Pilotin. In Teilen Nepals müssen Frauen bis heute während ihrer Periode in vom Rest der Familie getrennten Zimmern schlafen. Dieses Tabu schützt die Frau nicht – es diskriminiert sie und beschränkt sie in ihrer Freiheit. 

Wieviel Tabu-Potential die Menstruation heute noch besitzt, weiß jede Frau, der es peinlich ist, im Großraumbüro die Kollegin nach einem Tampon zu fragen. Fremde Menschen im Bus um ein Taschentuch bitten und so ungehemmt reinrotzen, dass die Umstehenden ihre Gespräche für einen Moment unterbrechen müssen? Gar kein Problem! In Gegenwart männlicher Kollegen nach Tampons fragen? Albtraum! Demut! Peinlichkeit! Auch, dass in der Bindenwerbung eine blaue Flüssigkeit anstatt einer roten für die Demonstration von Blut verwendet wird, drückt einiges an Unbehagen gegenüber der Periode aus. Nicht zu vergessen das Vokabular: Wer sagt, „Tante Rosa“ sei „zu Besuch“ oder jemand „surfe“ auf der „roten Welle“, empfindet es ganz offensichtlich noch als irgendwie unanständig, die Sache beim Namen zu nennen. 

Was passieren kann, wenn es keine Tabus mehr gibt, können wir in den sozialen Netzwerken beobachten

Es ist ziemlich anstrengend, über den Begriff des Tabus nachzudenken, ohne einen Knoten im Gehirn zu bekommen. Natürlich ist Blut im Fernsehen irgendwie eklig, genau wie Eiter in der Pickelwerbung. Aber wie soll man verstehen, dass einerseits Periodenblut im Fernsehen durch eine blaue Flüssigkeit ersetzt wird, weil es nun einmal als eklig gilt Blut zu zeigen, wenn andererseits in Genusszeitschriften, auf Restaurantkarten und in Metzger-Schaufenstern rohes Fleisch, Gehirne und Innereien präsentiert werden wie höfische Blumenbouquets? Und wie zynisch und tabuisierungswürdig sind eigentlich die Illustrationen von quietschfidelen Schweinen mit Serviette um den Hals und Messer und Gabel in den Händen, die auf Tier- oder Fleischtransporten aufgedruckt sind? Es könnte gut sein, dass man diese Bilder in einigen Jahrhunderten in Volkskunde-Museen zur Schau stellt und die Leute sich angesichts der irrwitzigen Grausamkeit ihrer Vorfahren schütteln und wohlig gruseln wie wir heute im mittelalterlichen Folter-Museum. 

Tabus kommen und gehen also. Und nicht selten kann man dankbar dafür sein, wenn neue dazukommen. Im 19. Jahrhundert galt es in England zum Beispiel noch durchaus als lustiger Familienausflug, am Wochenende mal in die „Klapsmühle“ zu fahren und sich dort mit „Verrückten“ ablichten zu lassen. Unvorstellbar? Naja – in Zoo oder Zirkus geht man heute noch und freut sich über im Kreis tanzende Elefanten, die niemand gefragt hat, ob sie Lust auf Tanzen haben. Aber immerhin werden keine „kolonialistische Völkerschauen” mehr in der Manege abgehalten oder Menschen mit Behinderung ausgestellt. Auch hier funktioniert das Prinzip des positiven Tabus: Die Familienausflügler oder Zirkuszuschauer bedürfen keines besonderen Schutzes. Die unfreiwillig Ausgestellten schon.

Was passieren kann, wenn es gar keine Tabus mehr gibt, weder positive noch negative, können wir heute schon in einem Lebensbereich beobachten, der uns alle betrifft: im Internet. Und dort vor allem in den sozialen Netzwerken, wo wir direkt miteinander agieren, es also eigentlich bestimmte Gebote geben sollte, an die sich alle halten, damit niemand Schaden nimmt. Stattdessen, so Tabuforscherin Krajweski, herrsche dort eine vorgegaukelte Anonymität und die Menschen teilten darum Dinge, die zu privat seien, um geteilt zu werden. Die Reaktionen darauf fielen ebenfalls ungefiltert aus: „Online fehlt das internalisiertes Bewusstsein dafür, was man preisgibt und was besser nicht, und wie man mit den Menschen redet und wie nicht. Die soziale Verantwortung fällt scheinbar weg.“ Und das kann schlimme Folgen haben, weil andere darunter leiden oder zum Beispiel durch Cybermobbing krank werden. 

Aber wie gesagt: Tabus kommen und gehen, alte fallen weg, neue entstehen. Sabine Krajewski glaubt, dass sich darum auch der Umgang in den sozialen Netzwerken eines Tages durch neu entstehende Tabus regulieren wird. Da so etwas aber eben nicht von heute auf morgen passiert, ist es eher unwahrscheinlich, dass wir es noch miterleben.

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