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Was soll ich tun, wenn ein Freund oder Familienmitglied eine Essstörung hat?

Foto: Baweg / photocase, Bearbeitung: Daniela Rudolf

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Eine Essstörung, wie Magersucht oder Bulimie, kann Leben zerstören. Sie vereinnahmt den Menschen, der an ihr erkrankt ist, dominiert seine Gedanken und Lebensführung, entstellt die Persönlichkeit. Das ist nicht nur für den Betroffenen selbst schlimm, sondern stürzt auch seine Mitmenschen in schwere Krisen.  

Essstörungen sind in Deutschland weit verbreitet, nach Schätzungen der Techniker Krankenkasse leiden rund 700.000 Menschen daran. Fast jeder Deutsche dürfte also schon einmal mit der Krankheit konfrontiert gewesen sein: Sei es, als er an einer ausgemergelten Fremden vorbeischlenderte. Sei es, durch den Post eines alten Schulfreundes, auf dem Augen und Wangenknochen bedenklich hervorstehen. Sei es, wenn die Schwester nach dem Essen auf die Toilette verschwindet, um zu erbrechen. 

Wer eine dieser Situationen so oder ähnlich schon erlebt hat, kennt auch die Gedanken, die uns danach umtreiben. Soll ich die Frau darauf ansprechen? Wie reagiere ich auf den Post? Wie bringe ich meine Schwester dazu, das Essen drin zu behalten?

Wahrscheinlich machen uns diese Fragen gerade deshalb so mürbe, weil es leider kein Patentrezept für das richtige Verhalten gegenüber Essgestörten gibt. Das weiß auch Liane Hammer, Psychotherapeutin für junge Patienten beim Versorgungszentrum Essstörungen ANAD e.V. in München: „Nicht jedem Erkrankten hilft das Gleiche, schließlich hat jeder Mensch andere Bedürfnisse und Empfindungen. Es ist außerdem wichtig, welche Beziehung der Betroffene und der Außenstehende zueinander haben. Gute Freunde sollten sich oft anders verhalten als die Eltern, diese wiederum ganz anders als entfernte Bekannte. Dementsprechend muss das 'Hilfsverhalten' immer wieder an den Einzelfall angepasst werden.“ Trotzdem gibt es auch Verhaltensweisen, von denen Experten im Allgemeinen ganz deutlich abraten. Und Tipps, wie man stattdessen besser mit Betroffenen umgehen könnte.

Zwang und Druck helfen nicht, Aufmerksamkeit der Angehörigen schon

Das beginnt schon bei dem Verdachtsmoment, dass jemand an einer Essstörung leiden könnte. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) empfiehlt, dann keinesfalls Kritik an Essverhalten oder Figur des Gegenübers zu üben oder gar, als Laie eine Diagnose zu stellen. Schließlich ist nicht jeder Mensch, dessen Körper sich schnell verändert, essgestört. Auch organische Krankheiten können ähnliche Symptome auslösen. Vielmehr sollte man sich als Angehöriger darum bemühen, den Betroffenen zeitnah zu einem Besuch bei einem Arzt oder Therapeuten zu bewegen, der dann die Ursache des Gewichtsverlusts feststellen kann. Die Entscheidung, ob professionelle Hilfe in Anspruch genommen werden soll, muss letztendlich aber der Betroffene treffen.

Zwang und Druck helfen nicht, Aufmerksamkeit der Angehörigen allerdings schon: Wer erste Symptome einer Essstörung – wie häufiges Wiegen oder die ständige Beschäftigung mit Kleidergrößen und gesundem Essen – an einem Menschen erkennt, sollte wachsam bleiben.

Bei Magersüchtigen ist die Krankheit meist leichter zu erkennen als bei Betroffenen mit Bulimie: Sie drücken sich vor Mahlzeiten, tun sich sehr kleine Portionen auf und kauen jeden Bissen viele Male. Sie wälzen häufig dicke Kochbücher, kochen die Rezepte daraus nach – und essen am Ende nichts davon. Sozial ziehen sie sich stark zurück, weil gesellschaftliches Leben fast immer mit Essen verbunden ist. 

„Der Zahnarzt bemerkt die Bulimie oft als Erster“

Bulimiker dagegen essen oft genau wie alle anderen mit, verschwinden dann nur zügig auf die Toilette. Laut Hammer kommt den Angehörigen lange nichts merkwürdig vor. „Der Zahnarzt bemerkt die Bulimie oft als Erster – wenn der Zahnschmelz schon unter dem ständigen Erbrechen leidet“, erklärt sie. Symptome, die Bekannte und Angehörige bemerken könnten, sind unter anderem Reizbarkeit und Stimmungsschwankungen, sowie, dass die Betroffenen sehr viel Sport machen.

Hammer ist der Meinung, dass Angehörige die Betroffenen darauf ansprechen sollten, sobald sie Anzeichen für eine Essstörung erkennen und deshalb besorgt sind. Allerdings müsse man dabei auf den richtigen Ton achten: „Die Betroffenen können meist nichts mit Vorwürfen wie 'Du bist viel zu dünn, das ist nicht gesund' anfangen. Sie fühlen sich so angegriffen und machen dicht. Besser ist es zu sagen: 'Mir ist dieses und jenes an dir aufgefallen und ich mache mir Sorgen.' Denn die Krankheit selbst wird von den Esssgestörten anfangs nicht als Problem wahrgenommen. Die Sorge der Mitmenschen dagegen schon.“

 

Komplizierter findet Hammer das Ganze, wenn ein entfernter Bekannter auf starken Gewichtsverlust aufmerksam wird – zum Beispiel über Bilder in sozialen Medien. Wer hier einen Verdacht hegt, sollte mit Lob sparen, keine Likes verteilen und keine Kommentare verfassen. Äußerlichkeiten einer esssgestörten Person zu bewerten, kann in jede Richtung schädlich sein. „Positives Feedback, das sich auf die Äußerlichkeiten eines Betroffenen bezieht, verstärkt die Essstörung meistens“, warnt Hammer.

 

Wer sich wirklich Sorgen mache, solle lieber direkten Kontakt zum Betroffenen aufnehmen und zum Beispiel um ein Treffen bitten. Zur Not auch unter einem Vorwand: weil man sich ja lange nicht gesehen hätte zum Beispiel. „Bei diesem Thema darf man auf keinen Fall mit der Tür ins Haus fallen. Wenn keine enge Verbindung besteht, wäre es deshalb auch ratsam, sich als Außenstehender zunächst mit Menschen auszutauschen, die dem Betroffenen näher stehen. Die können sich wahrscheinlich vorsichtiger an das Thema herantasten“, erklärt Hammer.

 

Dass die Mitmenschen von an Essstörungen erkrankten Menschen ebenfalls von den Auswirkungen der Essstörung betroffen sind, ist für sie klar: „Der Leidensdruck, den Außen- und vor allem dem Betroffenen Nahestehende spüren, ist oft kaum zu ertragen.“

 

So arbeitet sie bei ANAD nicht nur mit den Patienten zusammen, sondern auch mit Eltern, Geschwistern und Freunden der Betroffenen. Auch sie will Hammer ermutigen, sich professionelle Hilfe zu holen, wenn sie die Situation zu sehr mitnimmt – sogar, wenn der Betroffene selbst vielleicht noch nicht zu diesem Schritt bereit ist.

 

„Es gibt nicht Schlimmeres, als sein Kind verhungern zu sehen und hilflos daneben zu stehen“

 

Gerade bei jungen Patienten ist die Einbindung der Familie wichtig. Sie wohnen meist noch zuhause – die Essstörung sitzt immer mit am Tisch. „Wie kann ich meinem Kind, meinem Bruder, meiner Schwester helfen?“ – Dieser Frage können die nächsten Angehörigen so gar nicht entgehen. Sie drängt sich mehrmals täglich mit der Beobachtung auf, dass sich jemand, den man besonders liebhat, wieder nicht zum Essen durchringen kann – und sie zerfrisst den Menschen, der keine Antwort auf sie findet. Das empfindet auch Hammer so: „Es gibt nicht Schlimmeres, als sein Kind verhungern zu sehen und hilflos daneben zu stehen“, sagt sie.

 

Auch für Geschwister sei die Essstörung oft eine große Belastung. Besonders dann, wenn sie noch sehr jung sind. Sie wären schließlich selbst noch stark auf die Aufmerksamkeit der Eltern angewiesen, während diese sich hauptsächlich auf den Kampf gegen die Essstörung konzentrieren.

 

Geschwistern von Betroffenen im Alter zwischen zehn und 21 Jahren bietet ANAD deshalb eine kostenfreie Sprechstunde an. „Die meisten kommen mit sehr vielen Fragen zu uns“, sagt Hammer. „Denn oft werden sie gar nicht richtig eingeweiht in das, was gerade mit Bruder oder Schwester passiert. Diese Fragen versuchen wir dann natürlich zu beantworten. Außerdem geben wir den Geschwistern mit auf den Weg, dass es in Ordnung ist, Aufmerksamkeit von ihren Eltern einzufordern und zu sagen: ‚Hey, ich bin auch noch da!’“  

 

Beim Essen sollten sich Mitbewohner nicht nach den Extrawünschen des Erkrankten richten

 

Dass die Verwandten oft viel Verantwortung übernehmen und unbedingt helfen wollen, birgt laut Hammer eine Gefahr: „Die Angehörigen lassen sich hineinstrudeln, richten alles auf die Heilung aus, alles darauf, dass der Betroffene endlich isst und das Essen dann im Körper behält.“

 

Das ist natürlich gut gemeint und mehr als nachvollziehbar. Allerdings machen sie es den Betroffenen so manchmal sogar leichter, ihr zwanghaftes Essverhalten weiter aufrechtzuerhalten. Viele Familien richten sich beim Essen schließlich nur noch nach den Wünschen des essgestörten Familienmitglieds: Es bestimmt, wann gegessen, wie und was gekocht werden soll.

 

Dieses Verhalten kommuniziert, dass die Ernährungsweise in Ordnung sei und sogar, dass die Störung so mächtig sei, dass sich die ganze Familie ihr unterordnen müsse. Um klar zu machen, dass die Essstörung nicht über das Leben aller anderen bestimmen sollte, rät Hammer, die Betroffenen bei Extrawünschen aufzufordern, sich ihre Portion selbst zuzubereiten. Auch in WGs, in denen sonst gemeinsam gekocht wird, sollte man sich deutlich von der Essstörung des Mitbewohners abgrenzen.

 

„Es ist nie gut, zu sehr gegen die Essstörung zu reden.“  

 

Weil die Essstörung dem Erkrankten selbst nicht als Feindbild erscheint, meint Hammer außerdem: „Es ist nie gut, zu sehr gegen die Essstörung zu reden. Eine Diskussion darüber sollte man weitgehend vermeiden. Darüber reden kann man natürlich, dann sollte man aber einen anderen Ton anschneiden und zum Beispiel fragen, wie die Essstörung für den Betroffenen ist, wie sich das alles anfühlt.“ Denn zwischen Essgestörten und ihren Angehörigen entstünden ohnehin schon häufig Spannungen wegen des Essens, die sich negativ auf die Beziehungen auswirken. „Um das zu vermeiden, sollten Angehörige am besten Aktivitäten suchen, die sie gemeinsam mit dem Betroffenen machen können, die nichts mit Essen oder Kalorien verbrennen zu tun haben.“  

 

Laut Hammer ist also wichtig, dem Betroffenen zu vermitteln: „Du bist gut wie du bist, aber wir wollen die Essstörung nicht. Wir unterstützen dich und nicht deine Krankheit.“ Wenn der Betroffene sich und seine Krankheit so schließlich voneinander unabhängig betrachten kann und selbst motiviert ist, sich gegen die Störung zu stellen, dann kann sich ein Weg aus der Krankheit auftun. „Die Verantwortung“, das betont Hammer immer und immer wieder, „liegt immer beim Betroffenen. Die kann niemand sonst übernehmen.“

 

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