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Nehmt kurze Texte endlich als Literatur ernst!

Foto: suze / photocase.com

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Es ist schon auffällig, wie viele Bücher sich gerade, wenn auch jeweils auf ihre ganz eigene Art, sehr kurz halten. Fünf Beispiele: Rupi Kaur mit ihrem New York Times Bestseller „milk&honey" (Kurze Gedichte, mit denen die Autorin auf Instagram berühmt wurde), die Facebook-Statusupdates von Puneh Ansari namens „Hoffnun’“, (in Form und Stil sehr verwandt mit diversen veröffentlichten Notizen ihrer befreundeten Kollegin Stefanie Sargnagel), Megan Hunter mit „Vom Ende an“ (die Geschichte einer Frau, die während einer Naturkatastrophe in England ihr erstes Kind bekommt) und Benjamin Leberts „Die Dunkelheit zwischen den Sternen“ (die Geschichte zweier Waisenkinder aus Kathmandu). Die beiden Letzteren sind zwar auf den ersten Blick Romane, bestehen dennoch aus auffällig vielen kürzeren Absätzen pro Seite, die mit ihren noch kürzeren Sätzen fast wie Tagebuchnotizen oder Lyrik daherkommen.

Es wäre jetzt naheliegend zu behaupten: Der verblödete digital native hat offensichtlich nicht mehr die Fähigkeit, sich länger als 32,5 Sekunden zu konzentrieren. Besser, man druckt Facebook-Statusupdates und Tweets in Bücher. Zupft Romantext in lauter kurze Häppchen, damit sich der arme Braindrain-ADHS-ler von heute nicht daran verschluckt. 2017 haben unsere Sehgewohnheiten auch die Literatur verändert: auch dort werden jetzt lieber Mini-Serien statt Filme produziert.

Es gibt keinen Bedarf an so hässlichen und leicht abschätzig klingenden Worten wie „Twitteratur“

Wenn es nur nicht so ein Irrtum wäre! Sicher hat das möglicherweise gerade stattfindende Revival der kleinen Form in der Literatur auch etwas mit dem Einzug der Hektik des Digitalen zu tun. Aber warum eigentlich das Kurze und Knappe und Fragmentarische immer als das „Kurz-vorm-Debilen“ abstempeln? Neulich las ich in der Selbstbeschreibung eines renommierten Schweizer Magazins die Erklärung "sich an anspruchsvolle Leserinnen und Leser" zu richten, "die über mehr Zeit verfügen, um ihren intellektuellen Hunger zu stillen als ein paar Minuten." Ich weiß, was damit gemeint ist, halte es aber für missverständlich formuliert. Es klingt nach: Lang ist besser. Aber nur, weil etwas „kurz“ ist, oder man nicht lang Zeit braucht, um es zu lesen, soll es per se schlecht sein? Das ist in etwa die gleiche fatale Logik wie zu sagen: Das Essen habe ich so schnell aufgegessen, es kann gar nicht von guter Qualität gewesen sein. Ein Problem ist es in der Tat, wenn Dingen, die Zeit brauchen, um gut zu werden, diese Zeit nicht mehr zugestanden bekommen. Ein Problem vieler Online- und womöglich auch Offlineredaktionen. Dann entstehen schlechte Texte. Doch viele schlechte Texte sind sehr, sehr lang. Gute kurze Texte sind doch die eigentliche Kunst. 

Es besteht daher absolut kein Anlass zu glauben, die Vorliebe der Menschen für kurze Texte sei grundsätzlich ein Symptom des digitalen Braindrains. Es gibt auch keinen Bedarf an so hässlichen wie jetzt schon altmodisch und leicht abschätzig klingenden Worten wie „Twitteratur“ für Kurzliteratur aus dem Internet. Egal, ob sie jemand auf ein altes Kaugummipapier, auf Twitter, auf Facebook oder ins analoge Tagebuch schreibt: Die kleine Form ist weder neu, noch kann sie keine große Kunst sein.

 

Anhänger kürzester Formen in der Literatur gab es schon lang vor dem Internet. Wer das nicht glaubt, sollte sich das Buch „Kürzestgeschichten“ von Reclam, „112 einseitige Geschichten“ von Luchterhand oder „Überraschung! Die besten Sekundenstorys“ von Suhrkamp zulegen. Darin finden sich so schöne kurze Geschichten wie die des bereits 1942 verstorbenen russischen Schriftstellers Daniil Charms mit dem Titel „Halt!“: „Halt! Bleiben Sie stehen und hören Sie, was für eine erstaunliche Geschichte. Ich weiß nicht einmal, mit welchem Ende ich anfangen soll. Es ist einfach unwahrscheinlich.“, oder Margaret Atwoods titellose Tragödie: „Begehrte ihn. Kriegte ihn. Scheiße.“

 

Das ist kein Braindrain, das ist Meditation im besten Sinne

 

Ich behaupte, dass kleine, kurze, fragmentarische Formen das Feuerwerkspotential im Gehirn erhöhen. Gute kurze Texte regen die Kreativität an wie kleine Stromstöße. Man wird niemals denkmüde beim Lesen, ehe man müde werden könnte, ist der Text ja längst vorbei, das Hirn aber enorm angeregt. Wie geht es aus? Was war gemeint? Kurze Texte vertiefen wie Gedichte oder Songtextschnipsel die eigene Kreativität, sie wirken nach und fordern das eigenständige Nachsinnen ein. Das ist kein Braindrain, das ist das spielerische Ausbilden eigener poetischer Kräfte, Meditation im besten Sinne.

 

Mag natürlich ebenfalls wahr sein, was man in vielen Werken der Literaturgeschichte liest: Dass die Popularität von kurzen Formen immer etwas mit Zeiten des Umbruchs zu tun hat. Der Autor Alfred Polgar schrieb 1926: „Das Leben ist zu kurz für lange Literatur (…) Dass Menschen in dieser tobenden, von nie erlittenen Wehen geschüttelten Epoche Ruhe und Zeit, innere Zeit, finden, weitläufig zu lesen, ist mir ein rechtes Mirakel. (…) Ballast ist auszuwerfen – und was alles entpuppt sich nicht als Ballast? –, kürzeste Linie von Punkt zu Punkt heißt das Gebot der fliehenden Stunde“. 1926 empfand man sich halt als aktuell lebender Mensch mal wieder, ganz zu Recht, als der allermodernste und von nie dagewesener Schnellebigkeit und politischen Umbrüchen gepeinigte Mensch überhaupt. Aber: Gibt es denn Zeiten, die nicht in irgendeiner Hinsicht Umbruch sind? Ist Umbruch nicht erstes Lebensprinzip? Und hat man im Leben nicht IMMER zu wenig Zeit für das, was man noch alles gern machte, hätte, könnte, wär?

 

Könnte man auch mal drüber nachdenken. Fest steht jedenfalls: Kurz heißt nicht per se niveaulos. Man kann sich nur wünschen, dass größere Verlage zunehmend den Mut finden, kleine Formen zu veröffentlichen. Nicht zuletzt eben, weil die bereicherndste Literatur am Ende immer noch die ist, die man dann tatsächlich auch liest. Und nicht der 900-seitige Epos, der auf dem Nachttisch verstaubt und einen Nacht für Nacht daran erinnert, was für ein schlechter Leser man ist.

 

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