Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

"Als blonder Typ warst du in Neukölln schnell das Opfer"

Foto: Afra Bauer

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Berlin-Neukölln, Gropiusstadt, ein Sommer Anfang der Nullerjahre und vier Jungs: Lukas, Julius, Gino und Sanchez sind vor allem mit Schule schwänzen und kiffen beschäftigt. Bis sich plötzlich die Gelegenheit ergibt, sehr schnell an sehr viel Geld zu kommen. Dafür müssen sie allerdings ziemlichen Mist bauen...

„Sonne und Beton“ heißt der Debüt-Roman von Autor und Comedian Felix Lobrecht, der am 10. März bei Ullstein erschienen ist. Felix, 28, ist selbst in Neukölln aufgewachsen und lebt auch heute noch in Berlin, allerdings in Friedrichshain. An seinem Esstisch, an dem er große Teile des Buchs innerhalb weniger Wochen geschrieben hat, spricht er über den Neuköllner Slang, wieso ein falscher Blick bedeuten kann, verprügelt zu werden, und warum er manche Szenen aus seinem Buch nicht auf der Bühne vorlesen kann.

jetzt: Was an dir ist typisch Neukölln?

Felix Lobrecht: Ich glaube, ich bin ein bisschen misstrauischer als die meisten und denke eher, dass jemand mich verarschen will. Ich bin aber auch ein bisschen realistischer und habe keinen so verklärten Blick auf Deutschland. 

Inwiefern haben den andere?

Ich habe in Marburg studiert und meine Kommilitonen waren größtenteils – ohne das respektlos zu meinen – weiße, deutsche, Mittelschichts- und Akademiker-Kinder aus Kleinstädten und Dörfern. Die fanden es entweder megaspannend, wie ich aufgewachsen bin und dass ich mich wirklich oft geprügelt habe. Oder sie haben gesagt: „Das stimmt doch alles gar nicht, hier ist immer noch Deutschland!“ Und ja, im Vergleich zu Banlieues in Frankreich, Ghettos in den Staaten oder Slums in Südafrika ist es hier viel besser. Aber trotzdem ist der Shit real: Jugendkriminalität, Armut, Gewalt, Dreck auf den Straßen und beschissene Schulen sind auch in Teilen Deutschlands Realität. 

Hat Neukölln auch was Gutes mit dir gemacht?

Ja, mein Humor ist total davon geprägt! Meine Comedy-Sachen sind relativ trocken und reduziert und das hat mit den Jungs aus Neukölln zu tun. Viele sind nicht mit Deutsch als Muttersprache aufgewachsen und ich war immer krass beeindruckt, wie wenig Wörter sie brauchen, um eine Geschichte zu erzählen, die man sofort versteht und die megalustig ist. 

Die Jungs im Buch reden auch Neuköllner Slang miteinander: „Wallah, ich mach guten Preis“, „Wenn die Faxen machen, wir ficken die“, so was. Ist es dir leicht gefallen, Slang zu schreiben?

Es hat megaviel Spaß gemacht! Und es ist halt die Sprache, mit der ich aufgewachsen bin, auch, wenn ich heute kaum noch so rede. Ich konnte das also mehr oder weniger aus der Erinnerung runter schreiben. Wenn mir was komisch vorkam, habe ich es mir drei Mal laut vorgelesen, um zu überprüfen, ob es stimmt.

Ich will mich nicht als Weißer auf die Bühne stellen und "Nigger" sagen

Hast du dir auch von anderen dabei helfen lassen?

Mein kleiner Bruder hat mir krass geholfen. Er war auch auf so einer absoluten Chaoten-Schule und kennt den Slang ganz genau. Wenn es um Türkisch ging, habe ich einen türkischen Kumpel gefragt, und beim Latino-Slang von Sanchez meine beiden kubanischen Kumpels. Dann gibt es noch die Stelle, an der eine Italienerin spricht. Dafür habe ich bei einer Show jemanden gefunden, der mit Italienisch und Deutsch aufgewachsen ist und den Teil von Hochdeutsch in Italo-Deutsch übersetzt hat. Es war mir extrem wichtig, dass das alles authentisch ist. Diese Art von Sprache ist ja mehr oder weniger das, was das Buch ausmacht. Und auch wenn der Slang auf den ersten Blick nicht so aussieht, folgt er ja gewissen Regeln.

Welchen?

Es ist ein Mischmasch aus verschiedenen Sprachen: Türkisch, Arabisch, Polnisch, Russisch, Spanisch, Deutsch. Durch die verschiedenen Einflüsse hat er so was wie eine eigene Grammatik. Wenn man ein bisschen Türkisch kann, versteht man, warum türkische Jugendliche in Deutschland so reden wie sie reden: Im Türkischen gibt es beispielsweise keine Artikel. Oder wenn man die türkische Frage „Bu ne“ – „Was ist das?“ – wortwörtlich übersetzt, bedeutet sie: „Was das?“

Gerade wird sehr viel über Political Correctness diskutiert – aber dieser Slang, in dem alle dauernd „ficken“, „behindert“ und „Kanaken“ sagen, ist eher das Gegenteil von politisch korrekt...

Ja, wie soll so was auch in der Gropiusstadt ankommen? Und vor allem: wozu? Die haben da echt andere Probleme. Klar, es wäre wünschenswert, wenn nicht so geredet wird, und ich gebe mir mittlerweile selbst Mühe, sensibel zu sein und zum Beispiel meine Sprache zu gendern. Aber für das Buch musste ich das ausblenden. Mein Vater hat gesagt: „Felix, muss da jedes dritte Wort ‚ficken‘ sein?“ Aber er hat dann auch verstanden, dass das einfach authentisch ist. Es gibt allerdings ein paar Szenen, die ich bei Lesungen nicht vorlese, weil ich mich nicht als Weißer auf die Bühne stellen und „Nigger“ sagen will. Das fühlt sich einfach nicht richtig an.

Dein Protagonist Lukas denkt sich ab und zu einen Migrationshintergrund aus und sagt auf der Straße, er sei Pole. Warum?

Als Selbstschutz. In seinem Viertel sind deutsche Jungs in der Minderheit – und Minderheiten werden diskriminiert. Bei mir war das damals auch so: Als blonder Typ warst du in Neukölln schnell das Opfer und konntest das leicht umschiffen, indem du gesagt hast: „Ich bin Pole!“ Dann wurdest du sofort ganz anders wahrgenommen, das war krass.

In einer anderen Szene hilft Lukas sein „Deutschsein“: Er wird von seinem Lehrer gar nicht  erst verdächtigt, Mist gebaut zu haben, bei dem er aber mitgemacht hat...

Ja, man muss das im Kontext betrachten: Ab dem Moment, in dem jemand wie Lukas oder wie ich aus Neukölln raus ist oder mit Institutionen zu hat, ist er ein weißer Deutscher in Deutschland und hat einfach Glück. 

Du musst deinen Blickkontakt so timen, dass er bedeutet: "Fickt euch – aber ich will keinen Ärger!"

Kann es einen auch zum Rassisten machen, in Neukölln aufzuwachsen?

Wenn die deutschen Jungs von den Migrantenjungs auf die Schnauze kriegen, werden sie dadurch keine Nazis – im Gegenteil! Die bewundern die Jungs und passen sich an: Klamotten, Attitüde, Sprache. Vor Kurzem habe ich die Neuköllner Bürgermeisterin, Franziska Giffey, getroffen, nachdem sie mein Buch gelesen hatte, und sie hat gefragt: „Wer integriert hier eigentlich wen?“ Das trifft es total! 

Lukas schützt sich nicht nur durch sein Äußeres und die Sprache, er achtet auch sehr genau darauf, wen er wie, wann und wie lange anschaut oder wann er besser wegschaut.

Ja, da geht es viel um Timing. Du kannst nicht an einer Gruppe jugendlicher Türken im U-Bahnhof vorbeigehen und auf den Boden gucken. Dann sehen die sofort: „Der Spast hat Angst!“, und du kriegst auf die Schnauze. Du kannst die aber auch nicht einfach anstarren, dann sagen sie: „Was guckst du so behindert?“, und du kriegst auch auf die Schnauze. Du musst deinen Blickkontakt also so timen, dass er bedeutet: „Fickt euch – aber ich will keinen Ärger!“ 

Die Handlung deines Romans spielt Anfang der Nullerjahre. Weißt du, wie ist es heute in Neukölln und der Gropiusstadt ist?

Ein bisschen, ich habe ja auch noch Familie da. Aber an sich bin ich raus aus der Szene – ich weiß nicht, wie die Jungs heute reden, rumlaufen, wie sie mit Smartphones umgehen, wie die ethnografische Zusammensetzung vor Ort ist. Es ist mir immer wichtig zu betonen: Einigermaßen authentisch kann ich nur über die Zeit zwischen etwa 2002 und 2005 schreiben. Fakt ist, und das hat mir auch die Bürgermeisterin noch mal gesagt: Der Peak von Jugendkriminalität und Gewaltdelikten in Neukölln war genau zu der Zeit. Damals war das Viertel ja auch durch den Skandal um die Rütli-Schule überall in den Medien. Es ist seitdem zwar besser geworden – aber auch drei nette Cafés und eine Galerie im Reuterkiez lösen nicht die Probleme von Armut, Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit und beschissenen Schulen. Da ist noch viel zu tun. 

Obwohl die Geschichte nicht autobiografisch ist, ist viel davon von deiner eigenen Jugend inspiriert – es ist also schon ein sehr persönliches Buch. Bist du zufrieden damit?

Ich bin megazufrieden, das ist das Beste, was ich je geschrieben habe! Das klingt total arrogant, ich weiß. Aber ich erwarte doch von einem Künstler, dass er mir nur was anbietet, von dem er selbst fest überzeugt ist. Ich hätte sicher noch ein paar Sachen einbauen können, die sich besser verkaufen, und man hätte das mit dem ganzen Neukölln-Thema marketingmäßig noch offensiver angehen können. Aber es gibt da diesen geilen Satz von Drake: „I never bend my morals for the ticket sales.“

Mehr Interviews mit Autoren und Autorinnen:

  • teilen
  • schließen