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Jungs, was geht eigentlich in der Kabine?

Foto: Photocase.de

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Liebe Jungs,

ich hätte da mal 'ne kurze Frage. Hat auch mit Fußball zu tun. Und nein, es geht nicht um Abseits. Höchstens um abseits des Spielfeldes. Um die Kabine nämlich. Der einzige Ort, neben der Hamburger Herbertstraße, zu dem mir bisher der Zugang verwehrt blieb. Was ihn natürlich umso interessanter macht. 

Ich vermute, über die Dinge, die im Laufe eines Fußballerlebens in so einer Kabine geschehen, könnte man ein ganzes Buch schreiben. Selbst wenn die Karriere des Protagonisten nur bis zur U19 andauert. Denn wie ich gehört habe, lernt man in der Kabine noch viel mehr als auf dem Platz. Zumindest fürs Leben. 

Die Abläufe in einer Kabine kann man sich ja grade noch vorstellen. Aber wie sieht das zwischenmenschlich aus, wenn ein Haufen pubertärer Jungs, mit unterschiedlicher Intelligenz und Physis gesegnet, auf ein paar Quadratmetern zusammengepackt ist? Spricht man da über die Spielaufstellung oder über die ersten Haare am Sack? Werden da die großen Fragen des Lebens besprochen oder doch eher potenzielle Spielerfrauen?

Auch hinter mir liegt eine kurze Fußballkarriere. Zunächst einige Jahre in der Schulmannschaft. Einmal die Woche Training, kaum Gemeinschaftsgefühl. In den Kabinengesprächen ging es hauptsächlich um Tauschgeschäfte. Zopfgummi gegen Sprühdeo. Iso-Getränk gegen Apfelschorle. Nicht mal Panini-Sticker waren ein Thema.

Auf die Schulmannschaft folgte ein halbes Jahr in der Jungenmannschaft einer amerikanischen Highschool. Auch dort galt für mich: striktes Umkleiden-Verbot. Aber immerhin gaben mir die Fahrten mit dem Mannschaftsbus einen kleinen Vorgeschmack. Die waren vor allem laut und geprägt von ständigem Streiche spielen und Bizeps messen. Selbst damals kam mir das schon kindisch vor – aber wird man in der Kabine überhaupt je Erwachsen? Oder ist das eigentlich ein ziemlich guter Ort, um ab und zu mal wieder Kind zu sein?

Zur Kabine gehört natürlich auch die Dusche. Und spätestens da, habe ich gehört, war für einige von euch dann irgendwann Schluss mit Fußball. "Ich war einfach nicht so der Gruppen-Duscher", erzählen mir heutige Tennisspieler und gucken dabei ein bisschen verschämt. Ansonsten wird das Thema eher totgeschwiegen. Dabei muss sich da doch irgendwie ein bisschen Gewohnheit einstellen, wenn man dreimal in der Woche nach dem Training gemeinsam blankzieht. Oder?

Also: Auch hier mal Einblicke bitte. Wir sind gespannt! 

jungsfrage text
Illustration: Katharina Bitzl

Die Jungsantwort:

 

Liebe Mädchen,

 

Danke, endlich fragt mal eine von euch. Und rümpft nicht nur von draußen die Nase über die Kabine. Schlecht riechen muss es da ja. Wie im Affenkäfig. Und auch ungefähr so niveauvoll zugehen. Na klar, die Umkleidekabine, zumal die einer männlichen Sportmannschaft, ist ein Affenkäfig. Und zwar ein verdammt mythischer, magischer, mächtiger Affenkäfig. 

 

Es ist, wie manchmal bei uns, eigentlich total einfach: In der Kabine sind alle gleich. In der Kabine gibt es nicht schwach oder stark. In der Kabine muss jeder mal leiden. Darf jeder mal König sein. Wie auf einem Schiff voller Narren, das mit voller Takelage gen Rand der Erdscheibe rast. Die Kabine, das ist Kammerspiel und große Bühne, Traumfabrik und Mobbinghölle. Hier wächst zusammen, was nicht zusammen gehört. In der Kabine, so pathetisch mag ich hier ausnahmsweise werden, wird der Junge zum Mann.

 

Ihr habt es längst gemerkt: Die Kabine ist wichtig für uns. 

 

Sie ist viel mehr als die Ansammlung von Haken und Bänken, schlecht geputzten Fliesen, von immer leicht angeschimmelten Duschen mit diesen drahtigen Duschgelhaltern. Apropos Duschgel! Ich habe mal erlebt, wie jemand in eine Flasche Duschgel gepinkelt hat. Und jemand anderes es benutzte.

 

Ja, das ist die Kabine auch! Ein Dschungel, in dem das Recht des Fieseren gilt. Man wird als kleiner Junge in diesen Urwald gestoßen, in der unschuldigen Annahme, es ginge beim Fußballclub um Fußball. Klar, Bälle sind toll. Rennen tut gut. Tore sind Orgasmen. Aber das eigentlich Wichtige passiert in der Kabine. Der Homo ludens geht zum Sport, um zu spielen. Aber mehr noch, um an den anderen zu wachsen.

 

Wir gehen hin, weil wir hier zum ersten Mal ohne die Mama die Schuhe anziehen, stark sein mussten. Weil wir hier einmal durch die heiße Mangel einer Jungsbande gedreht wurden, in der jede noch so kleine Schwäche scharf beobachtet, analysiert und mit Häme übergossen wird. Egal ob man schlau, stark oder schön ist oder gar nichts davon – in der Kabine kriegt jeder sein Fett weg. Das Monster Gruppe schnappt dich, kaut dich, verdaut dich. Spuckt dich in der Kabine wieder aus. Und irgendwann merkst du: Jeder hat seine Macken. Aber keiner wird ihretwegen ausgestoßen. Ich bin okay! Und wenn mal nicht, ist das auch egal. "Selbstironie" nennen wir später, was wir hier von der F-Jugend an inhalieren.  Der Verhaltensforscher Desmond Morris beschrieb das in seinem Buch

The Soccer Tribe (Der Stamm der Fußballer): "Das Erste, was einem bei den Gesprächen von Fußballern auffällt", so Morris, "sind die ständigen Witzeleien. Der oft unbarmherzige Humor trägt dazu bei, dass jeder Teamkamerad, der auch nur die geringsten Anzeichen von Egoismus zeigt, einen Dämpfer erhält."

 

 

In der Kabine ist einer immer zu albern, einer immer zu nervös, einer zu laut, einer zu leise. Wie da draußen im echten Leben eben.

 

Wir gehen also hin, weil wir hier etwas Wichtiges gelernt haben: sich selbst nicht so ernst nehmen. Sich nicht gegenseitig auf die Fresse hauen. Miteinander zurecht zu kommen. Und das ging nur, weil wir hier unter uns sein durften. Ohne euch ist die Fallhöhe niedriger. Wir gehen aber auch hin, weil hier auf engstem Raum so unheimlich viel passiert. Wir gehen in die Kabine für die unerträgliche Spannung in den Sekunden, bevor der Trainer die auf der Flipchart vorbereitete Aufstellung aufdeckt. Steht mein Name auf dem Feld oder nebenan in der Loser-Liste der Ersatzbank? Wir gehen hin für diese harte Konfrontation mit dem Selbst und seiner Rolle: Wer bin ich? Stamm oder Ersatz? Teil der Lösung oder Teil des Problems? 

 

Wir gehen hin, um zu leiden. Und wir gehen hin, weil wir das alles lieben. 

 

Wir lieben die Minuten vor Anpfiff, die Konzentration, den „Tunnel“. Das ganze Vodoo: Der Spielmacher hat sein Trikot über dem Kopf, in der Dunkelheit sieht er schon die öffnenden Pässe, der Verteidiger zieht doppeltes Tape um die Schienbeinschoner, im leeren Blick schon den gegnerischen Stürmer, diese Ratte! Der Torwart, die Handschuhe auf den Oberschenkeln, murmelt Beschwörungen in Richtung des feindlichen Balls. Torhüter sind ja bekanntlich alle leicht irre. In der Kabine ist einer immer zu albern, einer immer zu nervös, einer zu laut, einer zu leise. Wie da draußen im echten Leben eben.

Wir lieben das Klackern der Stollen auf den Fliesen. Wir lieben das rausgehen aus der Kabine wie eine zweite Geburt. 

 

Dann ist Halbzeit, ab in den Bau, erste Wunden lecken. Der Kopf ist voll mit Adrenalin und Angst: Können wir so weiterspielen, schaffen wir das, blamieren wir uns? Runterkommen, durchatmen, die anderen anschauen – und zum ersten Mal dieses goldene Gefühl von Gemeinschaft. Was immer eben passiert ist, 4:0 oder 0:4, was immer noch passieren wird, rote Karten oder Fallrückziehertore, egal ob Kreisliga oder Allianzarena – wir sitzen hier. Zusammen. Und zusammen gehen wir da durch. Schneeregen und Knochenbrecher mögen auf uns da draußen warten. Wir haben zusammen dem Schrecken und der Schönheit des Spiels ins Auge geblickt. Wir hassen uns gegenseitig und jeder sich selbst für Fehlpässe und Eigensinnigkeiten. Aber hier drinnen sammeln wir unsere Truppen und greifen noch mal an. "Raus jetzt! Macht sie fertig!", schreit einer durch die acht Quadratmeter Kabine. Hier drinnen klingt er wie tausend Mann.

 

Reden wir nicht über Niederlagen. Sie tünchen die Kabine in graues Licht, das hängende Köpfe und aufmunternde Klapse vom Betreuer in eine Beerdigung verwandelt. 

 

Reden wir über Siege. 

 

Wenn man, wie ein alter Mitspieler es auszudrücken pflegte, „diese Kasperletruppe abgenagt hat wie ein kaltes Hähnchen“, dann leuchtet die Kabine gülden, wird zur Disko, zum Raumschiff. Jetzt kann die Kabine alles. Der Ghettoblaster wird angefeuert, vorher wird noch das Vereinslied gegrölt, dann das Mannschaftslied, dann das schmutzige Lied über den Gegner, dessen Frauen, die eigenen Frauen, die Frau vom Trainer. Wieder hallt es so schön, eine Echokammer der Freude. In der Kabine trifft jeder jeden Ton.

 

Anekdoten und Heldengeschichten klingen in diesem kleinen Kabuff noch viel lauter und größer

 

Hat man gar das Derby gewonnen, dem Erzrivalen ordentlich einen eingeschenkt, diese Lappen abgefertigt, auseinandergenommen, nach Hause geschickt, kommt der Präsident in die Kabine, im Sakko vielleicht, das provoziert. Zack, Bierdusche, óle óle! Sogar der Trainer, dieser autoritäre Sack, der einen nie aufstellt, nie anschaut, nie wertschätzt, er wird geherzt wie ein lang verschollener Bruder, setzt sich auf den Kasten Bier und zieht eine Flasche nach der anderen unter dem Hintern hervor. 

 

Wir hatten früher, ein Stürmer war Sanitärinstallateur („Gas, Wasser, Scheiße“), eine unbenutzte, fehlerhafte Kloschüssel in der Kabine, kein Witz. Die wurde nach großen Siegen, und jeder Sieg war damals groß, voll mit Sangria oder sogar Wodka Bull gemacht, und dann die Strohhalme rein. So saßen dann ein gutes Dutzend halbnackter, verschwitzter Männer um eine Kloschüssel und sogen an rosa Röhrchen um die Wette.

 

Anekdoten und Heldengeschichten klingen in diesem kleinen Kabuff noch viel lauter und größer. Der Widerhall der gekachelten Wände macht aus Abstaubern Traumtore, aus Gegnern Mäuse, aus uns allen die besten Freunde. Die grätschen mit präzisem Spott dazwischen, wenn einer anfängt zu fliegen. Und die können locker eine Stunde lang über ihre Schwänze reden. Die mit den großen sind meistens eher leise, die mit den kleinen werden aufgebaut: „Wie auf dem Platz, Technik ist alles“, und keiner geht hier raus, ohne einen guten Spruch über seinen Schwanz auf den in den Kabinenhimmel wachsenden Sprücheturm gelegt zu haben. Und ja, das tut gut! Man entspannt unweigerlich, was den eigenen angeht, wenn man so viele fremde sehen konnte. Einer damals konnte drei Tiere aus seinem Pimmel basteln. Ich schwöre, sowas geht nur in der Kabine.

 

Vielleicht ist es das: Nichts ist jemals total ernst hier. Alles ein Spiel. 

 

Nach all dem Lärm aber auch: endlose, ehrliche Gespräche. In der Kabine lässt es sich besser reden als überall sonst. Denn selbst weltmännische Star-Trainer wie Pep Guardiola kennen das erste Gebot der Männergemeinschaft: Was in der Kabine passiert, bleibt in der Kabine. Liebeskummer, Laufwege, Lebensweichen – das ganz Große und das ganz Kleine passt zwischen zwei Sporttaschen. Und ist behütet. Wer in der Kabine, wo alle mal die Hosen runterlassen, nicht auch seelisch blankziehen kann, kann es vermutlich nirgends.

 

Ihr spielt also darin eine Rolle, natürlich. Als Angebeware. Als Sehnsuchtsobjekt. Jetzt hätte ich fast geschrieben: ein bisschen wie die Fußbälle, die sich nie ganz kontrollieren lassen, die uns überfordern und doch gerade deswegen faszinieren wie nichts anderes auf der Welt. Aber einen Fußball-Mädchen-Vergleich zum Schluss, nach all dem verdienten Pathos – damit könnte ich mich niemals wieder in die Kabine trauen.

 

Gibt's auch ohne Fußball:

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